Das ver_rückende Objekt
Tim Behren
Il y a plus d'objets que de personnes dans nos souvenirs.1
Im Zeitgenössischen Zirkus zeigt sich eine große Bandbreite an Bezügen zu Objekten. Sensibilität2 für die Materialität von Dingen sowie eine multisensorische3 Bezugnahme auf Räume, Architekturen und nicht belebte Körper werden in vielen Arbeiten von Zirkuskünstler:innen sichtbar. Neo-materialistisch geprägte philosophische, feministische und naturwissenschaftliche Aspekte des Zusammenspiels von Körper, Objekt und Raum finden spätestens seit Mitte der 90er Jahre4 verstärkt Eingang in die Reflektion und die künstlerische Praxis von Zirkus.
Wie Zirkus von Künstler:innen trainiert und künstlerisch praktiziert wird, hängt insbesondere davon ab, von welcher Zirkusdisziplin sie geprägt sind. Die meisten dieser Disziplinen im Zirkus definieren sich über die Arbeit mit gegenständlichen Objekten. Diabolos, Keulen und andere Manipulationsobjekte stehen beispielweise für die Jonglage. Größere Objekte wie das Single Wheel oder das Schleuderbrett sind als akrobatische Zirkusdisziplinen am Boden bekannt. Apparaturen wie das Vertikalseil, das Drahtseil oder der chinesische Mast bieten dem menschlichen Körper Zugang zum Luftraum und kommen in künstlerischen Arbeiten oftmals in Form von raumbestimmenden Bühnenbildern vor. Häufig werden diese auch technisch so weiterentwickelt oder verfremdet, dass sie als skulpturale Struktur oder als Teil der Raumarchitektur wirken.
Im Deutschen hat sich noch keine zufriedenstellende Bezeichnung für diese raumgreifenden Apparaturen etabliert, die auf eine potentielle Bedeutungserweiterung des menschendominierten Umgangs mit Objekten hinweisen könnte. Im Französischen wird in Bezug auf Zirkusobjekte von „agrès" gesprochen, im Englischen von „apparatus". Letzteren definiert der Philosoph Giorgio Agamben in Anlehnung an Michel Foucaults Begriff des Dispositivs als alles, „was in der Lage ist, Gesten, Verhaltensweisen, Meinungen oder Diskurse lebender Wesen einzufangen, zu orientieren, zu bestimmen, zu modellieren, zu kontrollieren oder zu sichern.“5 Ein solcher Begriff eröffnet die Möglichkeit, die (Zirkus-) Künste mehrschichtig zu lesen und in diesem Sinne über sie zu schreiben und zu sprechen.
Die flämische Zirkusdramaturgin Bauke Lievens beschreibt die historische Entwicklung der Beziehung zwischen Körper und Objekt als einen radikalen Wandel „von der Dominanz der Körper über die Bewegungsbahnen des Objekts (Traditioneller Zirkus und Nouveau Cirque), hin zur Dominanz des Objekts über die Bewegungsbahnen des Körpers (Zeitgenössischer Zirkus)“.6 Lievens spricht von einer Verschiebung, die für ein verändertes Weltbild steht und in dem der Mensch nicht mehr als Kolonisator seiner Umwelt im Mittelpunkt steht. Dies verweist sowohl auf die Entstehungszeit des modernen Zirkus in der Industrialisierung als auch auf ein koloniales Erbe, das mit seiner Geschichte des Exzeptionalismus und der objektifizierten Präsentation marginalisierter und exotischer Lebewesen ab Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erfuhr.7
Lievens‘ Beschreibung der Beziehungen zwischen Körper und Objekt im Zeitgenössischen Zirkus will ich ergänzen um eine sich wechselseitig beeinflussende Koexistenz zwischen Körper und Objekt, in der nicht-lebenden Entitäten ebenso eine eigenständige Wirkmacht zugesprochen wird – die sogenannte „agency“.8 Diese Objektbeziehung entrückt den Menschen aus dem Zentrum. Ich möchte das Objekt daher, im Sinne einer aktiven Wirk- bzw. Handlungsmacht, als ein die bestehenden Beziehungsverhältnisse „ver_rückendes Objekt“9 beschreiben. Es löst den Menschen aus dem binären Dominanzverhältnis (aktiv-passiv) von Körper und Objekt und eröffnet mehrschichtige Bezugsebenen. Durch die Entgrenzung aus der vom Menschen zugewiesenen (passiven) Objekthaftigkeit erweitert sich das Wirkpotential. Das ver_rückende Objekt kann (im Zirkus) beispielweise auch eine Architektur oder ein spezifischer Umraum sein, die den menschlichen Körper umschließen oder einen Raum zur Interaktion10 eröffnen.
Zur Veranschaulichung greife ich zwei künstlerische Positionen heraus, die im diesjährigen CircusDanceFestival in Köln zu sehen sind:
Der Jongleur Jörg Müller gehört zu einer Gruppe von Tanz- und Zirkuskünstler:innen, deren Recherchen einen starken Impuls durch die Einladung der französischen Choreographin Kitsou Dubois zur Teilnahme an Parabelflügen bekamen. Ein Einblick in ihre Bewegungs- und Körperstudien zur Schwerelosigkeit ist hilfreich, um die Entstehung von Jörg Müllers Arbeit "Noustube"11 in einem transparenten, drei Meter hohen und mit bis zu 1800 Liter Wasser gefüllten Zylinder nachzuvollziehen. Kitsou Dubois erhält in den 1990er Jahren den Auftrag des Centre national des études spatiales, angehende Astronauten mit tänzerischen Techniken und Verhaltensstrategien auf die körperlichen Anforderungen im All vorzubereiten. Dadurch erhält die Choreographin die Möglichkeit, an zahlreichen Parabelflügen teilzunehmen. Bei diesen aufwendig vorbereiteten Forschungsflügen entsteht durch ein spezifisches Flugmanöver für einen Zeitraum von ungefähr 20 - 25 Sekunden eine verminderte Schwerkraft im Innenraum des Flugzeuges - die sogenannte Mikrogravitation. Dubois nennt mehrere paradoxe Gefühle in der Schwerelosigkeit, von denen ich nur einige herausgreifen will, als Beispiele für eine komplette Neuorientierung der Positionierung des eigenen Körpers im Raum und in Bezug auf die Umgebung: das Gefühl, keinen Körper mehr zu haben und dadurch eine Sinnesfokussierung auf die visuelle Wahrnehmung durch die Augen; den Eindruck einer kompletten Ausdehnung des eigenen Körpers und der eigenen Grenzenlosigkeit; eine dreidimensionale Wahrnehmung des Raumes; beim Berühren von etwas oder jemandem wird man durch die fehlende Schwerkraft zurückgestoßen und muss sich festhalten, um nicht wegzufliegen.12 In der Schwerelosigkeit ist die Abgrenzung des eigenen Körpers von dem ihn umgebenden Raum nicht mehr eindeutig getrennt. Die Positionierung des Körpers in Bezug zu sich selbst und zu unbelebten Objekten sowie zu Menschen muss in der Schwerelosigkeit erst wieder neu konstruiert werden. Um mit Teilaspekten dieser Empfindungen auch auf der Erde weiterzuarbeiten, ist Wasser ein typisches Umgebungsmilieu. Jörg Müller, spezialisiert auf die Manipulation von Objekten, beginnt, wie er es selbst nennt, „den eigenen Körper zu jonglieren"13. Er entwickelt den bereits erwähnten mit Wasser befüllten Glaszylinder als Umgebung für einen menschlichen Körper. Das ver_rückende Objekt entzieht sich hier augenscheinlich jedwedem Bezwingen. Vielmehr muss sich der Körper in seiner Bezugnahme zu seiner Umgebung neu verorten.
Der Schweizer Zirkuskünstler Julian Vogel widmet sich der De- und Rekonstruktion von Diabolos aus Keramik und Porzellangeschirr und lässt diese im Kontext eigenständiger Ausstellungen seiner „CHINA SERIES“ zum Hauptaktant14 werden. Vogel stellt für jeden Ort einzelne Installations- und Performancemodule neu zusammen. Die Orte können Museen, leere Hallen, Theater oder, wie in Köln, ein Zirkuszelt sein. Die Ausstellung lädt zur freien Begehung in Räume ein, in denen Objekte – teilweise angetrieben von kleinen elektrischen Motoren – stetig rollen, fliegen, sich drehen, hängen, schwingen oder zerbrechen. Es sind Räume, die in ihrer Wirkung von Objekten bestimmt werden. So kreiert beispielsweise die Geräuschkulisse der Objektbewegungen auf der akustischen Ebene eine Atmosphäre der Fülle, stellenweise auch des Chaos. Alles scheint stetig in Bewegung zu sein, auch ohne die Anwesenheit von Menschen. Julian Vogel ergänzt sich in einzelnen Modulen der Serie auch mit seinem Körper, dabei steht jedoch die Aufmerksamkeit und die durch die Präsenz des jeweiligen Objekts erzeugte Spannung im Vordergrund. Die Beziehung des Objektes zu menschlichen Körpern kreiert sich insbesondere ab dem Moment, in dem das Publikum den Raum betritt. An der Decke hängende und in großen Radien schwingende Porzellan-Artefakte machen Räumlichkeiten nur mit Ausweichen durchquerbar und bringen den menschlichen Körper in Bewegung. Objekte tauchen auch an ungewohnten Orten, wie beispielsweise über Toiletten oder Pissoirs hängend auf. Es ist eine performative Ausstellung, die mit der Beschaffenheit und der Materialität, der Verortung, sowie der Beständigkeit und der Zerbrechlichkeit von Dingen spielt und dabei das Objekt in den Mittelpunkt rückt.
Die vielschichtigen Beziehungen zum Objekt im Zeitgenössischen Zirkus ermöglichen ungewöhnliche, originelle, aber auch herausfordernde oder amüsante Perspektiven auf den menschlichen Körper. Doch steht eben nicht nur der menschliche Körper im Zentrum der Zirkuspraxis, es ist die Interaktion zwischen Mensch und Objekt, Umraum und Architekturen, die diese Kunstform im Besonderen prägt. Um das komplexe Verhältnis zwischen dem Menschen und seinen multiplen Umgebungen nachzuvollziehen, braucht es vielfältige Zugänge. Damit spannt sich ein Bogen von den Erkenntnissen der Natur- und Geisteswissenschaften zu dem erfahrbaren Wissen, welches die Künste – und in diesem Fall insbesondere der Zeitgenössische Zirkus – bieten.
1 Louis, Edouard. Qui a tué mon père. Paris 2018.
2 Vgl. Focquet, Vincent: „Towards a humble circus.” In: Lievens, Bauke / Kann, Sebastian / Ketels Quintijn / Focquet, Vincent (Hg.): Thinking Through Circus. Gent 2019, S. 22.
3 Zur Verwendung des englischen Begriffs „multi-sensorial“ im Interview mit Farrell Cox vgl. Peschier, Francesca: The Extraordinary Bodies of Aerial Circus. 03/2019. http://exeuntmagazine.com/features/extraordinary-bodies-aerial-circus/ (Zugriff: 5.1.2022)
4 Seitdem wird im französisch geprägten zirkustheoretischen Diskurs von der Ära des Zeitgenössischen Zirkus gesprochen, vgl. diesbezüglich Trapp, Franziska: Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus. Ein Modell zur text-kontext-orientierten Aufführungsanalyse. Berlin 2020, S. 3.
5 Agamben, Giorgio: What is an apparatus? Stanford 2009, S. 14.
6 Lievens, Bauke: First Open Letter to the Circus: The need to redefine. Dezember 2015. https://e-tcetera.be/first-open-letter-to-the-circus-the-need-to-redefine (Zugriff: 30.3.2022)
7 Trapp, Franziska: Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus. S. 14.
8 Die Akteur-Netzwerk-Theorie und neo-materialistische Strömungen wie die objektorientierte Ontologie bei Graham Harman oder der performative Materialismus bei Karen Barad stellen das Verständnis, den Menschen als handelndes Subjekt und Objekte als passiv zu betrachten, in Frage. Vgl. diesbezüglich Hoppe, Katharina / Lemke, Thomas: Neue Materialismen zur Einführung. Hamburg 2019, S. 11 ff.
9 Die hier vorgeschlagene Schreibweise mit Unterstrich ist den Mad Studies (Study of madness and psychiatrization), mit ursprünglichem Bezug auf ver_rückte Zustände, entlehnt.
10 Mit Verweis auf Karen Barads Konzeption der „Intra-action“ vgl. Kavanagh, Katharine: „Thoughts from the Anthropocene.“ In: Circus Thinks. Reflections 2020. Circus Thinkers Plattform/Cirkus Syd: 2020, S. 8.
11 Das Stück entstand ursprünglich unter dem Titel „c/o“ in 2001 und wurde dann 2008 zu „Noustube“, als Einladung Jörg Müllers an weitere Künstler:innen, in diesem Setting zu kreieren.
12 Dubois, Kitsou: Danser l’apesanteur. Brüssel 2021, S.18, S.20.
13 Hivernat, Pierre / Klein, Véronique: Panorama Contemporain des Arts du Cirque. Paris 2010, S. 510.
14 Für nicht-menschlich agierende Entitäten schlägt Bruno Latour im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie die Bezeichnung „Aktant“ vor: Hoppe, Katharina / Lemke, Thomas: Neue Materialismen zur Einführung. S. 30, S. 45.