Denkbewegungen zwischen Zirkus und Tanz
Tim Behren
Eine Kollegin und Choreografin sagte zu mir vor einigen Jahren, dass wir doch beide - als vom Zirkus bzw. Tanz her kommende - auf dasselbe schauen: auf Bewegung. Dieser Satz stimmt für mich immer noch. Jedoch will ich heute Bewegung weiter verstehen, nicht nur als den Bezug auf eine geteilte oder sich beeinflussende Körperpraxis im Studio bzw. im Zelt, sondern ich denke dabei an Transformationsprozesse und Denkbewegungen innerhalb und zwischen diesen beiden Arbeitsfeldern. Die historischen Entwicklungen im Tanz und die stattfindenden Diskurse scheinen mir den Entwicklungen des Zirkus, zeitlich versetzt, voranzuschreiten. Der Tanz ist für mich ein Spiegel geworden, um auf Zirkus zu schauen und die Zirkusarbeit nutze ich als eine Erweiterung von Denk- und Aktionsräumen des Tanzes. So hat sich in meinem persönlichen Parcours der Einfluss aus beiden Feldern immer wieder abgelöst, miteinander verwoben und ist körperlich und im Nachdenken über die Bühnenarbeit zu einer Art DNA meines künstlerischen Tuns geworden. Mit der Spezialisierung auf die Partnerakrobatik während meines Studiums in Brüssel, war das gemeinsame Tun, das miteinander Nachdenken und Reflektieren eine Grundvoraussetzung für die künstlerische Arbeit. Damit meine ich nicht zwingend eine immer „kollektivisch“ stattfindende Kollaboration. Sondern ein gemeinsames Arbeiten und Kreieren, das durchaus abgegrenzte Felder und auch Funktionen in Bezug auf Entscheidungen einschließt, aber zum Beispiel die Rolle des Choreografierenden oder der Person, die die Konzepte entwirft, nicht heroisch1 über die Rolle des Performenden stellt. Über die Frage der Autor*innenschaft muss wahrscheinlich im Zirkus noch genauso viel diskutiert werden wie im Tanz. Ein eigenständiger Begriff hierzu, der etwa analog das Verhältnis von Choregrafie zu Tanz oder Regie zu Schauspiel beschreiben würde, fehlt dem Zirkus. Hier wird im französischen Sprachraum der Begriff der Zirkusautorenschaft (auteur de cirque2) genutzt, welcher dort wiederum sehr häufig mit der Rolle der Performer*innen zusammenfällt. Im Zeitgenössischen Zirkus wird sehr viel Zeit mit technischer und künstlerischer Recherche in Bezug auf die eigene Zirkusdisziplin verbracht. Die Zirkusobjekte werden häufig individuell angefertigt oder architektonisch weiterentwickelt. Dadurch lassen sich die über Jahre hinweg entwickelte Bewegungsrecherche und die häufig als Bühnenbild eingesetzten Zirkusobjekte schwer trennen von einer Regie- oder Choreografiearbeit, die dann gegebenenfalls von außen für die Inszenierung dazu kommt. Das heisst, dass die Autor*innenschaft an der Kreation bzw. die Ko-Kreation im Zirkus einen besonderen Stellenwert einnimmt. Das Verständnis von Choreografie als definierte Autorenschaft an Tanzstücken hat sich historisch auch erst entwickeln müssen3. Doch auch diese Definition wird heute wieder in Frage gestellt, z.B. auf Basis der Hervorhebung des kreativen Anteils der Performenden in der Kreation. Um dem jeweils Spezifischen des Choreografierens und des Zirkusschreibens, aber auch den möglichen Überschneidungen, noch ein bisschen näher zu kommen, möchte ich zwei Positionen aus der Zirkus- und Tanzwelt nebeneinanderstellen, die zeitlich weit auseinanderliegen. Rudolf Laban, ein wichtiger Mitbegründer des Ausdruckstanzes, beschrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts Choreografie als ein individualisiertes Wissen von der Beziehung von Körper und Umraum4 und entwickelte daraus sein Konzept der Kinesphäre. Der Zirkuswissenschaftler Vincent Focquet stellt im Kontext post-anthropozentrischer Überlegungen im Jahr 2020 fest, dass die Zirkuspraxis davon geprägt ist, dass menschliche Körper sehr viel Zeit mit Dingen im Probenraum verbringen5. Er nennt dabei beispielhaft
die Jonglage-Requisiten als Zirkusobjekte von Jongleur*innen bzw. Objektmanipulator*innen. Focquet folgert daraus ein besonderes Potential von Zirkus für das Lesen und Spüren (im-)materieller Umgebungen. Er schließt daraus auf eine hohe Sensibilität für Umwelt(en) und das körperliche Vermögen unterschiedliche Beziehungen zu ihr herzustellen als besondere Fähigkeit von Artist*innen, welche sich in die künstlerische Zirkuspraxis einschreibt. Beide Positionen markieren die Beziehung zwischen Körper und Raum als zentral für die jeweilige Kunstform und verweisen auf ein verkörpertes multidimensionales Denken, wobei beim Zirkus die interaktive Ebene zwischen menschlichem Subjekt und Objekt besondere Beachtung findet. Die Fähigkeiten aus der Körperpraxis lassen sich auch als verkörpertes Wissen und Denken beschreiben. Auch hier möchte ich zwei Ansätze nebeneinanderstellen. Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter beschäftigt sich mit der Betrachtung von Choreografie als Verfahren in Nicht-Tanz Kontexten (wie beispielsweise die Publikumsführung im Rahmen von Ausstellungen oder bei Installationen, Paraden und Prozessionen, Sport-Veranstaltungen, aber auch Verkehrsströmen, Vogelschwärmen, Computerspielen usw.) und fragt, wie diese das Verständnis von Choreografie wiederum verändern kann6. Sie verweist dabei auf die historische Entwicklung von der schriftzentrierten Idee von Choreografie als einer Ordnungsform von Tanz, welche die Kontrolle und Kontrollierbarkeit von Bewegung in den Vordergrund stellt, hin zu einem prozessorientierten und performativen Verständnis von Tanz, das Instabilitäten zulässt oder sogar hervorruft7. Eine mögliche Erweiterung des Begriffs von Choreografie über das Medium des Tanzes hinaus sieht sie in dessen Potential produktive Instabilitäten hervorzubringen8. Ein Verständnis von Zirkus als Verfahren, das in besonderer Art und Weise Beziehungen zwischen Künstler*innen und Welt herstellt und Künstler*innen als Akteur*innen des öffentlichen Lebens definiert, beschreibt die Zirkusdramaturgin Bauke Lievens, wenn sie Zirkus als eine körperbasierte Denkpraxis (embodied thinking praxis) auffasst. All diese Positionen weisen für mich auf ein Potential hin, die körperliche und künstlerische Praxis von Zirkus und Tanz als ein spezifisch gespeichertes Wissen anzusehen. Die Recherche und die Kreation wird damit zu einer verkörperten Reflektionspraxis von Künstler*innen, die sich im Moment der Aufführung öffentlich artikulieren. Das Potential über das jeweilige Medium Zirkus oder Tanz hinauszugehen, liegt für mich in dem Begreifen des Zirkus- und Tanzschaffens als einer kritischen Praxis - also einer kontinuierlichen kritischen Betrachtung, Reflektion und Analyse von Gesellschaft durch das Tun.
(1) Vgl. Dirk Baeckers soziologische Ausführungen zur Unterscheidung von heroischer und postheroischer Führung in Postheroische
Führung, 2014.
(2) Vgl. Marion Guyez, De l’artiste à l’auteur: processus de légitimation du cirque comme art de création en France, 2019,
https://journals.openedition.org/tangence/1083.
(3) Vgl. Gabriele Brandstetter mit Bezugnahme auf Susan Leigh Foster, „Choreographie“ in Kunst-Begriffe der Gegenwart, 2013.
(4) Ebd, S. 36.
(5) „Towards a humble circus“, in Thinking Through Circus, 2020.
(6) Gabriele Brandstetter, „Choreography beyond Dance – A Dance Promise“, in Rehearsing Collectivity. Choreography Beyond Dance.
(7) Gabriele Brandstetter, „Choreographie“ in Kunst-Begriffe der Gegenwart, 2013.
(8) Vgl. Bauke Lievens, Sebastian Kann, Quintijn Ketels, Vincent Focquet (Hg) in Thinking Through Circus.