Liebe Leser:innen, liebe Künstler:innen, liebes Publikum,
Clown und Politik. Dieses Wortpaar ist womöglich nicht sofort einleuchtend, aber das ändert sich, sobald wir den Begriff „Clown“1 genauer unter die Lupe nehmen: Gemeint ist sowohl die Figur in ihren unzähligen kulturellen, geographischen, historischen und ästhetischen Erscheinungsformen, als auch all unsere stereotypisierten Vorstellungen und Standardisierungen, die geprägt sind von einer übergriffigen westlichen Rezeption dieser Figur. Nostalgische Bilder und Vorstellungen von Kostümen, Make-up, Spielweisen und Aufführungsräumen sind in der westlichen Clownsrezeption unterbewusst fest verankert. Westliche Werte wurden auf eine Figur übertragen, die ihre Wurzeln auf der ganzen Welt hat. Wenn in der Clownsliteratur häufig geschrieben wird, „der Clown ist eine Weltfigur“2, so impliziert das in der Regel unsere westliche Perspektive auf und Rezeption von (überwiegend männlichen) Clownsfiguren - vom mittelalterlichen Hofnarr über Till Eulenspiegel, Shakespeares Witzbolde bis hin zu Popov oder Charlie Chaplins Tramp - und kaum die aktuellen Erscheinungsformen der Figur in der nicht-westlichen globalen Mehrheit, und nur vereinzelt weibliche Clowns. Nehmen wir all diese mit in den Blick und verschließen ihn nicht vor diskriminierenden und postkolonialen Strukturen, wird die Auseinandersetzung zwangsläufig eine politische. Im Clownsbegriff offenbart sich ein komplexes gesellschaftliches Phänomen, das bei näherer Aufschlüsselung sein politisches Potential offenlegt. Oder vereinfacht gesagt:
männliche und weibliche Clowns sind ein Spiegel unserer Gesellschaft, und diese ist politisch. Das Politische im Clown betrifft alle Schichten und Kulturen, und spielerische Freiheit kennt keine (von einer globalen Minderheit entworfene, nostalgische) Normativität. In zahlreichen Kulturen haben Clown und Clownin - bzw. seine und ihre Entsprechung als Heyoka, Coyote, Anansi, Atsara oder Juha, um nur einige zu nennen - die Mission, starre Ordnungen zu untergraben und Grenzen zu überschreiten. Neben Zauber, Charisma, Intuition und Ergriffenheit verkörpert er bzw. sie Humor, Außenseitertum und Auflehnung. Er:Sie verfügt über eine anarchische Kraft, gegen Normen anzutreten, und löst bei den Zuschauenden ein entwaffnendes Lachen aus, das sie für wichtige Botschaften öffnen kann. An dieser Stelle kreuzen sich Clownerie und politischer Aktivismus: politische Initiativen wie Clowns ohne Grenzen, die Humor und Leichtigkeit als eine Form der humanistischen Unterstützung in Kriegs- und Krisengebiete liefern, die Clandestine Insurgent Rebel Clown Army, die clowneske Eingreiftruppe, die mit humoristischen Happenings gegen Kriege, Finanzmächte und politische Intransparenz kämpft, oder die zahlreichen Krankenhausclowns, die Lachen als Heil- oder Linderungsmittel gegen körperliches und seelisches Leid einsetzen – Clownsaktivismus hat viele Erscheinungsformen und operiert weltweit.
Die aktuelle VOICES Ausgabe konzentriert sich auf vier Positionen innerhalb des Spannungsfeldes von politischer Verantwortung und Clownerie – wobei es weder um Clownspersönlichkeiten auf der politischen Bühne noch um Clownsmetaphern in der Berichterstattung über populistische Politiker geht.3 Es kommen Positionen zu Wort, die sich mit Mut und Humor dafür einsetzen, Veränderungen zu bewirken, inklusives Denken und Handeln zu fördern und Hoffnung zu wecken, und sich damit einreihen in eine uralte Tradition. Uns ist bewusst, dass dennoch viele wichtige Positionen in diesem Heft nicht zu Wort kommen.
Die Auseinandersetzung mit der Figur des Clowns fand bisher vorwiegend auf einer populärwissenschaftlichen Ebene statt: Obwohl eine Figur des Welttheaters, treten Clowns im theaterwissenschaftlichen Diskurs selten in Erscheinung. Vielmehr wurde lange Zeit unter dem Begriff „Clown“ all das zusammenfasst, was nicht in die starre Theaterlogik passte, ohne dessen Auftritte jedoch als eigenes Phänomen genauer zu betrachten.4 Seitdem die Beschäftigung mit betont körperlich-leiblichen Praktiken aus populärkulturellen Traditionen in der Theaterwissenschaft zunimmt, rückt auch die Clownsfigur ganz langsam in den Fokus.5 Als klischeebehaftet wurde sie auch im deutschen Zeitgenössischen Zirkus zunächst eher negiert. Seitdem sich das Selbstverständnis der Kunstform gewandelt hat, tauchen Clownsprinzipien unter dem Deckmantel zeitgenössischer Spielweisen in Zirkusstücken auf, und Clown und Clownin schleichen sich vorsichtig in den zirkuswissenschaftlichen Diskurs, um sich darin jenseits der nostalgischen Clownslinse umzusehen.
Eine Person, die schon seit über vierzig Jahren das Bild vom Klischee-Clown verzerrt, ist Leo Bassi. Seine Arbeit berührt aktuelle politische und soziale Themen und schafft aufregende, aufsehenerregende und schockierende Erlebnisse, bei denen die Provokation nicht bloßes Ziel, sondern eine eigene Sprache ist. Im Interview Instinkt und Lachen spricht er über das Clownsein als Mission, Humor als Waffe und die Notwendigkeit sich wandelnder Clownsstile. Jacqueline Russell formuliert im Artikel Im Chaos tanzen eine feministische Clownspraxis. Anhand der Beschreibung einer Clownsperformance veranschaulicht sie Überschneidungen von Clownswissen und feministischen Denkweisen. In den vergangenen Jahren hat sich eine neue Dringlichkeit ergeben, institutionalisierten und strukturellen Rassismus in unseren Gesellschaften zu erkennen und ihm entgegenzuwirken. Eine der Fragen, die damit einhergehen, ist die nach der „Entkolonialisierung der Clownspädagogik“.6 In dem Gespräch Kann (sich) Clownerie verändern? mit Amrita Dhaliwal geht es um ungleiche Verletzlichkeit, um den Umgang mit persönlichen Grenzen und umstrittene Lehrmethoden in Clownsworkshops. Der Beitrag von Ante Ursić Sondierung deplatzierter Materie. Oder wie wäre es mit einer Torte im Gesicht!? greift eine einzelne Handlung aus der Clownstradition heraus und beleuchtet ihre politische Kraft: das Tortenwerfen. Das beworfene Gegenüber wird in einen Zustand der Formlosigkeit überführt, der zum inszenierten Kontext für politische Aussagen taugt. Die Beiträge bilden nur einen Bruchteil der Themen und Aspekte ab, die der zeitgenössische Blick auf die Figur des Clowns umfasst. Wir sind uns bewusst, dass die Auswahl von unserer weißen mitteleuropäischen und privilegierten Perspektive geprägt ist. Wir haben den Wunsch, diese Position zu nutzen, um eine Reflexion über den Clown zu eröffnen, die inklusiv, demütig und sensibilisierend ist. Als Spiegel der Gesellschaft besitzen Clowns und Clowninnen das Potential, die Gesamtheit einer Kultur im mikrokosmischen Maßstab zu verkleinern. Die Auseinandersetzung mit patriarchalen Strukturen, weißer Vorherrschaft, Privilegien und kultureller Aneignung gehört auch dazu. Der:die Clown:in steht am Rande der Gesellschaft, aber vielleicht sollte er:sie ihr Zentrum sein.
Jenny Patschovsky & Benjamin Richter
Köln, März 2024
1 Wir verwenden den Begriff „Clown“ überall dort, wo er als Phänomen oder abstrakte Figur beschrieben wird, in seiner männlichen Form, während Clownspersonen gegendert werden. Eine Ausnahme, die als wegweisendes Lernfeld verstanden werden kann, bildet der Artikel Im Chaos tanzen. Gestaltung einer feministischen Clown-Praxis von Jacqueline Russell, in dem mit dem weiblichen Artikel und Pronomen für Clown experimentiert wird.
2 Von Barloewen, Constantin: Clowns: Versuch über das Stolpern. München 2010. S. 39.
3 Beispiele für Clowns in der politischen Staatsführung sowie für als clownesk betitelte politische Strategien finden sich im lesenswerten Beitrag von Torsten Körner: Politik als Manege – Das Zeitalter der Clowns. Deutschlandfunk Archiv vom 24.01.2021 https://www.deutschlandfunk.de/politik-als-manege-daszeitalter-der-clowns-100.html (besucht am 20.12.2023).
4 So formierte sich der Theaterbegriff insgesamt in Abgrenzung zum Clowns- bzw. Zirkus-Begriff, die als Sammelbegriffe für alles Unordentliche fungierten. Vgl. Peter, Birgit: „Geschmack und Vorurteil. Zirkus als Kunstform“ In: Kunsthalle Wien (Hg.): Parallelwelt Zirkus. Wien / Nürnberg 2012. S. 70–84. Noch ausführlicher in: Hildbrand, Mirjam: Theaterlobby attackiert Zirkus. Zur Wende im Kräfteverhältnis zweier Theaterformen zwischen 1869 und 1918 in Berlin. Ästhetische Praxis, Band: 4. Paderborn 2023.
5 Vgl. / Cf. Baumbach, Gerda: „Woher kommen Clowns? Buffoni sacri, heilige Clowns” In: Baumbach, Gerda (Hg.): Clowns. Theaterfiguren und ihr Hinterland. Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung, Band 9. Leipzig 2021. S. 21.
6 Der Begriff wurde geprägt von Jon Davison, einem bedeutenden britischen Clownsforscher. Vgl.: Davison, Jon: Decolonising Clown Pedagogy, veröffentlicht auf: https://www.jondavison.net/decolonisingclownpedagogy (besucht am 23.03.2024).