Eine Freak-Hantologie
Warum der Zirkus lernen muss, mit den Gespenstern zu leben
Ein Text von Ante Ursić
Mein Beitrag zu diesem Band ist der freundlichen Einladung der Herausgeber:innen zu verdanken, eine kurze Passage in meinem Artikel „On Clown Politics“1 zu erläutern, in der ich davor warne, den Begriff der Abjektion als inhärent subversiv zu idealisieren. Am Beispiel von Freak-Performances zeige ich, dass das Abjekte oft zur Aufrechterhaltung konservativer Werte benutzt wurde. Doch bevor ich an meine damalige Argumentation anknüpfe, muss ich gestehen, dass es mir ein gewisses Unbehagen bereitet, über den „Freak“ im Allgemeinen zu schreiben. In meiner wissenschaftlichen Arbeit verwende ich meist Fallstudien. Die Fokussierung auf eine bestimmte Aufführung ermöglicht es mir, beim Spezifischen zu bleiben und nachzuvollziehen, wie sich Konzepte oder Ideen (z. B. Deleuzes organloser Körper, Derridas Animots, Arendts Tiefsinn oder Weheliyes Habeas Viscus) in der Fallstudie entwickeln. Mein Interesse gilt der Untersuchung, wie Konzepte artikulieren, was Zirkusaufführungen oder -praktiken auf einer affektiven und theoretischen Ebene bewirken und wie sie auf Konzepte und Ideen zurückwirken und diese verkomplizieren und erweitern können. Meiner Erfahrung nach ist es daher am ergiebigsten, wenn Aufführung und Konzepte in einen Dialog treten, der zu einer Art gegenseitiger Befruchtung von Theorie und Praxis führt.
Mein Unbehagen rührt also von der Tatsache, dass mein Beitrag zu dieser Ausgabe nicht auf einer Fallstudie beruht, in der ich mich mit der Figur des Freaks und den zahlreichen Konzepten, Vorstellungen und Ideen beschäftige, die diese Figur hervorruft, seien es negative Konnotationen wie Menschenzoo, Kolonialisierung, Abjekt, Rassifizierung, Normate, Othering, Animalisierung, Objektifizierung, oder positive wie Differenz, Ermächtigung, queer, Widerstand und das Groteske? Ich werde auch keine Fallstudie vorlegen, um den Freak mit dem Zirkus in Verbindung zu bringen, einem Wort, das an sich schon eine metonymische Kette hervorruft, die nicht weniger problematisch und/oder suggestiv ist als das Wort Freak. Doch die Verknüpfung von Zirkus und Freak beschwört die Figur des siamesischen Zwillings herauf. Trotz der (theoretischen) Operationen trägt der eine weiterhin die Narben des anderen. Es ließe sich in der Tat behaupten, dass die heutigen Zirkuspraktiken immer noch von den Ungerechtigkeiten der Vergangenheit, der Gewalt und dem Schaden, der den Freak-Performer:innen zugefügt wurde, heimgesucht werden, ebenso wie von der Möglichkeit der Transgression, des Widerstands und der Abweichung, die der Freak-Körper gegenüber dem Normaten darstellt.2
Die Herausforderung dieses speziellen Textes liegt darin, diverse Widersprüche unter einen Hut zu bringen: allgemein zu schreiben, ohne zu verallgemeinern, zu schreiben, ohne weiteres Unheil heraufzubeschwören (ein Ding der Unmöglichkeit?), den Freak näher zu erläutern, ohne das „Freakige“ zu vertiefen, und einem Begriff gerecht zu werden, der mit so vielen Ungerechtigkeiten behaftet ist. Und trotz all dieser Herausforderungen aufmerksam zu bleiben für Öffnungen, Möglichkeiten und Potenziale, indem man sich nicht einfach für eine bestimmte dominante Darstellung der Bedeutung von Freak entscheidet. Die Aufgabe besteht also darin, den Freak nicht als homogenen (oder gar monolithischen) Begriff zu behandeln, sondern seine Heterogenität und Vielfältigkeit anzuerkennen.
Wie geht es ohne Gewalt? Geht es ohne Gewalt? Derrida erinnert uns in Marx‘ Gespenster daran, dass wir von einem Menschen nie als einer Figur sprechen sollten, denn: „Das Leben eines Menschen, so einzig wie sein Tod, wird immer mehr als ein Paradigma sein und immer etwas anderes als ein Symbol. Und es ist dieses selbst, was ein Eigenname immer nennen sollte.“3 Auch wenn sich Derrida hier auf die Ermordung des südafrikanischen Freiheitskämpfers, ANC-Mitglieds und Kommunisten Chris Hani bezieht, erinnern seine Worte daran, dass der Begriff Freak häufig als gemeinsamer Nenner verwendet wird, während die Einzigartigkeiten der Menschen, die unter der Kategorie Freak zusammengefasst werden, vergessen und diese so entmenschlicht werden. David Hevey hat den Begriff des „Enfreakment“ geprägt. Er beschreibt den Prozess „kultureller Rituale, die dazu dienen, die Personen zu stilisieren, zum Schweigen zu bringen, zu differenzieren und zu distanzieren, deren Körper die Freak-Hunter oder Schausteller kolonisieren und kommerzialisieren“.4 Wenn wir also über Freaks sprechen, müssen wir uns die Einzigartigkeit, Menschlichkeit und Würde jedes Einzelnen in Erinnerung rufen. Charles Tripp, Sarah Baartman, William Henry Johnson sind viel mehr als das, worauf sie in zahllosen Büchern und Webeinträgen über Freaks reduziert wurden: „The Armless Wonder“ (Das armlose Wunder), Hottentotten-Venus, „What is it?“ (Was ist das?) Im Zirkus spukt eine Vielzahl solcher Gespenster herum und fordert Verantwortung und Rechenschaft. Die Antwort auf ihre geisterhafte Präsenz ist eine ethische und politische Verpflichtung, die von Zirkuspraktiker:innen und -wissenschaftler:innen oft übersehen, ignoriert und verdrängt wird. Wie könnte die Zirkus-Community, in Anlehnung an Derrida, lernen, mit den Gespenstern zu leben?
Derrida schreibt: „Die Zeit des ‚lernen zu leben‘, eine Zeit ohne bevormundendes Präsens, käme auf das zurück, wohin der Auftakt uns führt: Lernen, mit den Gespenstern zu leben, in der Unterhaltung, der Begleitung oder der gemeinsamen Wanderschaft, im umgangslosen Umgang mit den Gespenstern. Es würde heißen, anders zu leben und besser. Nicht besser, sondern gerechter. Aber mit ihnen. Es gibt kein Mitsein mit dem anderen, keinen socius ohne dieses Mit-da, das·uns das Mitsein im allgemeinen rätselhafter macht denn je. Und dieses Mitsein mit den Gespenstern wäre auch - nicht nur, aber auch - eine Politik des Gedächtnisses, des Erbes und der Generationen.“5
Derrida vermittelt uns eine seltsame und schöne Vorstellung davon, wie es sein könnte, von Gespenstern heimgesucht zu werden. Eine von Gespenstern erfüllte Zeitlichkeit ist eine Zeit, die aus den Fugen geraten ist.6 Die gespenstische Zeit folgt nicht einfach einem klaren, linearen Verlauf von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft, sondern liefert uns Risse, Brüche und Stolpersteine. Verdrängte Ereignisse, Ungerechtigkeiten und verpasste Gelegenheiten können in Momenten, die sich unserer Kontrolle entziehen, zurückkommen und uns heimsuchen. Heimgesucht zu werden, gefangen zu sein in dem, was Derrida Hantologie nennt, bietet eine offene Stelle, eine Möglichkeit, eine gerechtere und ausgewogenere Welt zu schaffen.7 Von den Gespenstern der Vergangenheit heimgesucht zu werden, insbesondere von den Gespenstern vergangener Ungerechtigkeiten, ermöglicht eine Sensibilität für die Ungerechtigkeiten, die Gewalt und das Unrecht der Gegenwart. Mit den Gespenstern leben zu lernen, bedeutet für Derrida also, gerecht zu leben.
Mit den Gespenstern zu leben, bedeutet unter anderem, den historischen Kontext zu berücksichtigen. Der Zirkus ist nicht nur ein Ort, an dem Menschen und Tiere ihre außergewöhnlichen physischen Fähigkeiten präsentieren. Bis in die 1940er Jahre versammelte sich im Zirkus auch eine andere Art von Außergewöhnlichkeit. Freakshows waren im Goldenen Zeitalter (1870–1920) des US-Zirkus ein fester Bestandteil des Zirkuserlebnisses. In Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literature kommt Rosemarie Garland Thomson zu dem Schluss, dass der Freak-Körper von wesentlicher Bedeutung war für die Entstehung des normativen amerikanischen Bürgers; wie sie schreibt, „definierte die Freakshow das ‚Abnormale‘ und stellte dieses zur Schau“.8 Durch das Betrachten des Abnormalen konnte das Publikum definieren, was normal ist. Freakshows boten „die Möglichkeit, das Selbst anhand dessen zu definieren, was nicht der Norm entsprach“.9 Die Grenzen des normativen bürgerlichen Körpers wurden also durch die Ablehnung dessen etabliert, was uneindeutig war und keine strenge kategorische Unterscheidung ermöglichte. So überschritten beispielsweise bärtige Frauen die Grenze einer klaren Unterscheidung zwischen Mann und Frau; siamesische Zwillinge unterliefen die eigenen Vorstellungen von einem singulären Selbst als autonomem Wesen, das in die Grenzen ihres Körpers eingebettet war; Menschen mit außergewöhnlichem Haarwuchs am ganzen Körper wurden so dargestellt, dass durch die Behaarung die Grenze zwischen Mensch und Tier verwischt wurde.
Durch die Spektakularisierung der Andersartigkeit in Freakshows verdinglichte der Zirkus hegemoniale Überzeugungen.10 In Freakshows dienen die körperlichen Besonderheiten von Menschen als „hypervisibler Text, vor dem der ununterscheidbare Körper des Zuschauers zu einem scheinbar neutralen, gefügigen und unverwundbaren Instrument des autonomen Willens verblasst, passend zu der uniformen, abstrakten Bürgerschaft, die die Demokratie etabliert".11 Die Anomalien der Freak-Darsteller:innen wurden durch fiktionalisierte Narrative in einem Ausmaß verstärkt, das häufig ihre Menschlichkeit in Frage gestellt wurde. Elisabeth Grosz zufolge sind Freak-Darsteller:innen „jene Menschen, die außerhalb und trotz der Struktur der binären Opposition existieren, die unser grundlegendes Konzept und unsere Art der Selbstdefinition bestimmt“.12 Das Verwischen der Kategorien durch die Freak-Performer:innen bedroht also ein System, das auf gegensätzlichen Kategorien beruht. Die körperlichen Unterschiede der Freak-Performer:innen setzen diese außerhalb eines derartigen normativen Diskurses und verkörpern damit einen leiblichen Gegenentwurf zum „ungezeichneten, normativen Subjekt der US-Demokratie“.13
Freakshows machten sich Rassenunterschiede, Behinderungen und geschlechtliche Nonkonformität zunutze, um eine klare Kennzeichnung der Kategorie des Menschen zu schaffen, mit dem Ideal des ungezeichneten weißen, männlichen, aus der Mittelschicht stammenden heterosexuellen Subjekts.14 Von der problematischen Geschichte der Freak-Darsteller:innen aus der Vergangenheit heimgesucht zu werden, bedeutet, darüber nachzudenken, in welcher Weise Zirkuspraktiken und -performances auch weiterhin dominante ideologische Überzeugungen zu Begriffen wie Race, Geschlecht, Sexualität und Ableness bekräftigen. Die Freakshow des Goldenen Zeitalters mag ein Phänomen der Vergangenheit sein, doch ist es von höchster Wichtigkeit, sich des Fortbestands der Strukturen, die den Erfolg und die ideologische Arbeit der Freakshow ermöglichten, bewusst zu bleiben. Forschung in Black Studies, Queer of Color Critique, Schwarzem Feminismus und Disability Studies zeigt, wie der Prozess von Rassifizierung, Animalisierung, Ableismus, Heteronormativität und deren Überschneidungen auch weiterhin zu Entmenschlichung, Missbrauch und Unterdrückung nichtweißer, nicht genderkonformer und behinderter Menschen beitragen. Angesichts der Heimsuchung durch die Gespenster der Freak-Performer:innen fordert eine Freak-Hantologie Gerechtigkeit und die Verpflichtung, einen Zirkus zu schaffen, der für Gerechtigkeit sorgt.
Ajamu X, Self Portrait (Freak Tattoo), 2021 © Ajamu Ikwe-Tyehimba. All rights reserved, DACS 2023 / VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Zudem adressiert eine Freak-Hantologie Freak-Performer:innen als Subjekte, die außerhalb der Struktur der binären Gegensätzlichkeit existieren und diese herausfordern, wie Grosz uns bereits vor Augen geführt hat. Deshalb könnte eine Reaktion auf eine derartige Heimsuchung einen Wert, einen Verdienst und eine Erwünschtheit in der Herausforderung des Normaten sehen, einer Struktur, die nicht-normative Lebensweisen und Formen des Lebens nicht zulässt. Insbesondere der Begriff der Nicht-Normativität scheint der Klebstoff zu sein, der Freak und queer verbindet. So plädiert Jack Halberstam für ein Verständnis von Queerness, das über gleichgeschlechtliche Beziehungen hinausgeht und Lebensweisen, Praktiken und Erfahrungen von Subjekten umfasst, die „außerhalb von reproduktiver und familiärer Zeit sowie am Rande der Arbeits- und Produktionslogistik leben".15 Ein umfassendes Verständnis von Queerness wird nicht nur durch Freak-Performer:innen verkörpert, die geschlechtliche Binaritäten durcheinanderbringen, wie bärtige Frauen, Hermaphroditen und/oder Drag-Darsteller:innen, sondern schließt auch Personen ein, die anderen normativen Vorstellungen nicht entsprechen. Auch der Zirkuswissenschaftler Charles Batson unterstreicht diese Beziehung des Zirkus zu einer nicht-normativen, nicht-alltäglichen Veranlagung. Er schreibt: „Jemand aus meinem Stamm, jemand Queeres, Abnormales, ein Freak, der Dinge anders macht, der anders ist (...) steht im Zentrum der Praktiken und Bedeutung des Zirkus.“16
Die Verschränkung von Freak und queer birgt die gefährliche Tendenz, den Freak zu romantisieren und dabei die gelebte, oft ausbeuterische Erfahrung der Freak-Performer:innen und ihren ideologischen Kontext zu übersehen. Dies gilt vor allem für privilegierte Subjekte (die Mehrzahl zeitgenössischer Zirkus-Artist:innen), die sich gelegentlich vielleicht mit der Vorstellung des Freaks identifizieren, aber nicht die gleiche Verwundbarkeit besitzen, die Freak-Performer:innen, insbesondere People of Color und Menschen mit Behinderung, als nicht-ganz-menschlich gekennzeichnet hat. Gleichzeitig ist Queerness ein Zeichen für Nicht-Normativität und stellt auch eine Kritik an der etablierten kapitalistischen Ordnung und deren zwanghafter Heterosexualität und Homonormativität dar. Queerness will sich also der Einbindung in die Logik des Kapitalismus verweigern. Die Begriffe „Freak“ und „queer“ stehen nicht unbedingt für die gleiche Politik und Ethik, auch wenn sie viele Gemeinsamkeiten haben. Die klassische Freak-Performance wurde zwar als abjekt dargestellt, lieferte aber nicht unbedingt eine Gegenposition zur herrschenden Ideologie ihrer Zeit. Der Freak-Körper wurde vielmehr auf die Aufrechterhaltung der hegemonialen Ordnung ausgerichtet. Queerness hingegen stellt eine Kritik an den bestehenden Strukturen dar und imaginiert eine Sozialität jenseits der Beschränkung durch die bereits vorhandene kapitalistische Ordnung und ihre Mechanismen.
Mit meiner Unterscheidung zwischen Freak und queer möchte ich Freak-Performer:innen jedoch nicht die politische Handlungsfähigkeit absprechen. Auch wenn es nur wenige wissenschaftliche Nachweise gibt, wäre es ungerecht, den Freak nur als passiven Körper zu verstehen, auf den ein kultureller Text geschrieben wird. Das Umfeld von Freakshows war zweifellos ausbeuterisch und unterdrückerisch, insbesondere für Freak-Performer:innen of Color, doch die Shows ermöglichten auch eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit und Autonomie.17 Und Freakshows waren Orte, an denen Menschen mit Eigenheiten (auch queere Menschen) ein Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl entwickeln konnten.18 Zudem spielten Freak-Performer:innen, die sich ihrer gesellschaftlich abjekten Position bewusst waren, mit ihrem Publikum. So berichtet Janet Davis über die Widerstandsstrategie von Carrie Holt, die als „Fat Lady“ (Dicke Dame) auftrat. Wurde das Publikum zu ausfallend, simulierte sie ein Niesen. Das Publikum fasste sich augenblicklich, vielleicht in der Annahme, ihre Keime könnten ihrer Körperfülle entsprechen.19 Holt und ihre Kolleg:innen machen sich auch ein Vergnügen daraus, auf Zuschauer:innen zu weisen, die selbst Freak-Performer:innen sein könnten.20 Während Freakshows also als Räume der Ausgrenzung fungierten und ihre Narrative die Misshandlung und Marginalisierung von Menschen förderten, die nicht dem weißen, nicht-behinderten, heteronormativen Subjektstatus entsprachen, konnten Freak-Performer:innen auch Raum für Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und Selbstwert schaffen.
Es sollte betont werden, dass das Hauptinteresse des Zirkus darin bestand, mit der Ausnutzung der körperlichen Eigenheiten der Freak-Performer:innen finanziellen Gewinn zu machen. Die Handlungsfähigkeit und der Widerstandsgeist der Freak-Darsteller:innen ließen ein Gemeinschaftsgefühl entstehen, das es den Einzelnen ermöglichte, nicht wegen, sondern trotz des Zirkus auf ihrer Würde als Mensch zu bestehen. Wenn es je ein Versprechen gab, der Zirkus könne ein einladender Ort für Sonderlinge, Andersartigkeit, Außenseiter:innen, Queers und Freaks sein, dann muss der Zirkus dieses Versprechen erst noch einlösen. Um zu lernen, mit den Gespenstern dieser Vergangenheit zu leben, müssen im heutigen Zirkus Bedingungen geschaffen werden, unter denen der Respekt vor dem Anderssein nicht dem Profit untergeordnet, sondern in seine eigentliche kulturelle Struktur eingebettet ist.
Neben der Queer-Theorie werden häufig auch die Ausführungen von Michail Bachtin zum Karnevalesken und Grotesken angeführt, um die politische Arbeit von Freak-Performances und Zirkus zu verstehen.21 In seinen Überlegungen zum mittelalterlichen Karneval argumentiert Bachtin, dass der soziale Status des Einzelnen während des Karnevals vorübergehend auf den Kopf gestellt wurde. Die Festivitäten des Karnevals, bei denen es um körperlichen Genuss und Befriedigung ging, ermöglichten ein „zweites Leben“ in einer ansonsten streng stratifizierten gesellschaftlichen Ordnung.22 Bachtin zufolge spiegelt der groteske Körper die politische und soziale Transformation des karnevalesken Ereignisses wider. Beim Begriff des Grotesken liegt der Schwerpunkt auf dem Instinktiv-Emotionalen, Sinnlichen und Sexuellen anstatt auf dem Rationalen, Stagnierenden und Frommen. Durch die performative Kraft der Degradierung, der „Übersetzung alles Hohen, Geistigen, Idealen und Abstrakten“, richten die Subjekte ihre Transformation auf die materiell-leibliche Ebene.23 Wesentlich ist, dass die Verwandlung des grotesken Körpers „im Akt des Werdens“ ein offenes Ende hat, „sie ist nie abgeschlossen und nie vollendet“.24
Bachtin zufolge lebt die transformative Kraft des grotesken Körpers in Zirkussen und Schaubuden weiter: Die widerspenstigen und generativen Aspekte des grotesken Körpers werden durch Riesen, Zwerge, Monster, dressierte Tiere, Clowns und Narren verkörpert.25 Die Versuchung ist daher groß, sich bei Bachtins Grundkonzept zu bedienen, wenn es um das subversive Potenzial des Freaks im Kontext des Zirkus geht. Ein solches Verständnis vorauszusetzen, könnte jedoch die körperliche Differenz von Freak-Performer:innen als inhärent grotesk stratifizieren und essentialisieren, insbesondere wenn eine solche Sichtweise von einer normativen Stelle kommt. Meine Kritik zielt jedoch nicht darauf ab, die ästhetisch-politische Bedeutung des grotesken Körpers, wie Bachtin ihn versteht, zu mindern; im Gegenteil, ein Großteil des zeitgenössischen Zirkus, insbesondere Clownsaufführungen, zeigt auch weiterhin den Wert des grotesken Körpers für eine Kritik an der normativen Ästhetik. Wir können Bachtin zum Teil vorwerfen, den grotesken Körper mit dem Freak-Körper gleichzusetzen, und sollten uns hüten, es ihm gleichzutun.
Zum Abschluss dieses Textes möchte ich betonen, dass die Begriffe „queer“ und „grotesk“ nachdrücklich für eine Freak-Hantologie im Zirkus sprechen. Die Tatsache, dass der Zirkus immer noch lernen muss, mit den Gespenstern zu leben, macht ihn anfällig dafür, seine gewalttätige Vergangenheit zu verdrängen, indem er nach zeitgenössischen Entsprechungen sucht, die das (subversive) Potenzial des Freak-Körpers in einem zeitgenössischen Kontext zeigen. Zweifellos klingen in den Charakteristika von Freak-Performances der Vergangenheit Aspekte der Idee des Queeren und Grotesken an, doch bleibt der Begriff des Freaks nicht reduzierbar. Die Irreduzibilität des Freaks bildet den eigentlichen Kern einer Freak-Hantologie. Seine Macht besteht darin, in der Gegenwart Verantwortung gegenüber der Vergangenheit für eine gerechtere Zukunft zu übernehmen, eben dadurch, dass er für die Geschichte von Gewalt und Ausbeutung empfänglich ist und gleichzeitig deren Potenzial für Subversivität und Widerstand anspricht, ohne das eine gegenüber dem anderen zu vernachlässigen.
1 Ursić, Ante: A Pie in the Face. Approaching Clown Politics. In: Fuchs, Margarete / Jürgens, Anna-Sophie / Schuster, Jörg (Hg.): Manegenkünste: Zirkus als ästhetisches Model.
Bielefeld 2020. S./pp. 235 – 252.
2 Der Begriff „Normate“ wurde geprägt von Rosemarie Garland-Thomson. Er beschreibt ein anonymes ideologisches Diktum, das sich selbst definiert, indem es körperliche
Abweichungen, die nicht dem vorherrschenden Verständnis von Norm entsprechen, analysiert und kontrolliert. Siehe: Garland-Thomson, Rosemarie: Extraordinary Bodies: Figuring
Physical Disability in American Culture and Literature. New York 1997.
“Normate” is a term coined by Rosemarie Garland-Thomson which describes an anonymous ideological dictum that defines itself by parsing and policing bodily variations that do
not conform to the dominant understanding of norm. See: Garland-Thomson, Rosemarie: Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literature. New
York: Columbia University Press. 1997.
3 Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster: Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann. Frankfurt/Main 1996. S./p. 7.
4 Garland-Thomson, Rosemarie: Freakery: Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. New York 1996. S./p. 10.
5 Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. S./p. 11. Hervorhebung siehe Original. See original for emphasis.
6 Ebd. S. 38. / Ibid. p. 38.
7 Ebd. S. 11. / Ibid. p. 11.
8 Garland-Thomson, Rosemarie: Extraordinary Bodies. S./p. 58.
9 Ebd. S. 58. / Ibid. p. 58.
10 Siehe/See: Adams, Rachel: Sideshow U.S.A.: Freaks and the American Cultural Imagination. Chicago 2001.; Davis, Janet M.: The Circus Age: Culture and Society Under the American
Big Top. Chapel Hill 2002.; Lavers, Katie / Leroux, Louis Patrick / Burtt, John (Hg.): Contemporary Circus. London, New York 2020.
11 Garland-Thomson, Rosemarie: Freakery. S./p. 10.
12 Grosz, Elizabeth: Intolerable Ambiguity: Freaks as/at the Limit. In: Garland-Thomson, Rosemarie: Freakery. New York 1996. S./p. 56.
13 Garland-Thomson, Rosemarie: Freakery. S./p. 12.
14 Wynter, Sylvia: Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/Freedom: Towards the Human, After Man, Its Overrepresentation—An Argument. In: The New Centennial Review.
Band 3, Nr. 3. 2003. S./pp. 257 – 337.
15 Vgl./Cf. Halberstam, J. Jack: In a Queer Time and Space: Transgender Bodies, Subcultural Lives. New York 2005.
16 Vgl./Cf. Batson, Charles / Malouin Hayley / Richmond Kelly / Zajdlik, Taylor (Hg.): Freak and Queer: Towards a Queer Circus, Queer Hatchings, Monsters in the Cabinet, and Queering
Circus Sessions. In: Performance Matters, Band 4, Nr. 1–2. 2018.
17 Krugman, Sasha Dilan: Reclamation of the Disabled Body: A Textual Analysis of Browning’s Freaks (1932) vs Modern Media’s Sideshow Generation. In: Word and Text: A Journal of
Literary Studies and Linguistics. 2018. S./p. 96.
18 Ebd. S. 101. / Ibid. p. 101.
19 Davis, Janet M.: The Circus Age: Culture and Society Under the American Big Top. Chapel Hill 2002. S./p. 180.
20 Ebd. S. 180. / Ibid. p. 180.
21 Siehe/See: Tait, Peta: Circus Bodies: Cultural Identity in Aerial Performance. London, New York 2005.; Neirick, Miriam: When Pigs Could Fly and Bears Could Dance: A History of the
Soviet Circus. Madison: The University of Wisconsin Press. 2012.; Purovaara, Tomi: Contemporary Circus: Introduction to the Art Form. Stockholm, 2012. STUTS.
22 Bakhtin, Mikhail M.: Rabelais and His World. Cambridge 1968. S./p. 8. (Auf Deutsch erschienen unter: Bachtin, Michail M.: Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur. Aus
dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Suhrkamp Verlag. Berlin 1995.)
23 Ebd. S. 19. / Ibid. p. 19.
24 Ebd. S. 317. / Ibid. p. 317.
25 Ebd. S. 5. / Ibid. p. 5.