​​EZ – ZUR PRAXIS DES NEINS

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EZ – ZUR PRAXIS DES NEINS

Ein Text von Elena Zanzu

Ich wurde gebeten, über mein Stück EZ und meine Arbeitspraxis zu schreiben.
Die Stoppuhr läuft.

Vor einiger Zeit fand ich meine Schulhefte aus der Grundschule wieder. In den (italienischen) Grammatikübungen ging es darum, korrekte Sätze zu bilden: Subjekt, Prädikat, direktes und indirektes Objekt, Pronomen, Hauptsatz, Nebensatz. Aber das war nicht alles. Ich entdeckte in den Heften noch etwas anderes. Ein paar Ergänzungen, erweiterte Vorgaben wie: „Die Sätze müssen von nicht-menschlichen Tieren handeln“ oder „Die Sätze müssen Dinge enthalten, die orange sind.“ Diese Bedingungen hatte ich mir heimlich selbst gestellt. So bestand die Aufgabe nicht mehr darin, Übungen zu machen, die von der Lehrer:in vorgegeben waren. Es wurde mein Spiel, ein Ort, den ich erforschen konnte und dabei vergaß, dass ich Hausaufgaben machte. Es war aufregend, fast wie schummeln, aber im guten Sinne, denn ich machte die Aufgabe komplizierter und dadurch für mich einfacher. Ich dachte nicht mehr an die Grammatikregeln, es ging nur um das Spiel. Gleichzeitig waren es auch die gestellten Hausaufgaben, nur kam der Impuls aus einer anderen Richtung, er war spielerisch. Ich weiß nicht, ob die Lehrer:innen oder meine Mitschüler:innen je etwas davon bemerkt haben.

Mir zusätzliche Herausforderungen zu stellen, lässt meinen Adrenalinspiegel steigen. Ich kriege den Fokus eines Kindes und vergesse die Selbstzweifel und Impostor-Hemmnisse des Hochstapler:innen-Syndroms. Heute verberge ich es nicht mehr, denn offensichtlich ist das, was ich da mache, kein Betrug. Valentina Barone hat mich gebeten, einen Text mit (maximal) 12.000 Zeichen zu schreiben, und ich werde ihn in (maximal) 12.000 Sekunden schreiben. Das sind 200 Minuten, also 3 Stunden und 20 Minuten. Die Stoppuhr läuft seit Zeichen 63.

Sobald ich meine Arbeitspraxis in Worte fassen soll, verspannt sich mein Körper. Warum verlangt niemand von meinem Freund und Schriftsteller José Morella, dass er seinen Text performt? Bedarf sein Roman keiner Übersetzung in Bewegung? Müssen seine Worte nicht auch in ein anderes Medium übertragen werden als ihr ursprüngliches? Ist es notwendig, meine Praktiken in Worte zu fassen? Und wenn ich sie kommunizieren möchte, muss ich dann über sie sprechen? Ich hoffe, das hier wird kein Text über etwas. Auch wenn hier und da ein über etwas vorkommen sollte.

Während einer Residenz mit The Circus Dialogues (continued) stieß ich auf einen Vortrag von Jonathan Burrows, in dem er sagt: „Das einzig Wichtige beim Praktizieren ist, dass wir damit beginnen und zulassen, dass es weitergeht.“.1 Ich habe damit begonnen, ich führe es weiter, ich lasse es zu. „Die Praxis ist ein Tun, das noch nicht Kunst ist.“,2aber wie Katye Coe meint, hat das Praktizieren und Üben gleichwertige Gültigkeit wie das, was sich als Kunst manifestiert.3 Dieses Noch-nicht-Kunst, das mache ich. Nicht das „Über-die-Kunst“ und auch nicht das „Über-die-noch-nicht-Kunst“. Burrows zitiert in seiner Rede auch Chrysa Parkinson, die sagt: “Du kunstest, wenn du übst.“ Das trifft ganz gut, was ich tue: Ich übe mich in der Kunst der Noch-nicht-Kunst. Habe den Vortrag eben nochmal gelesen. Stoppuhr auf Pause.

Ich mache meine Apnoepraxis, meine Fesselpraxis, meine Lesepraxis, meine Hypnosepraxis, meine Handstandpraxis, meine Apnoe-Lauftrainingspraxis, meine Muskelaufbaupraxis, meine Schreibpraxis, meine Dry-Apnoepraxis, meine Hängepraxis, meine Zirkularatmungspaxis, meine Zuhörpraxis, meine Stücke-Sehen-Praxis, meine Liste-Schreiben-Praxis, meine Konsenspraxis, meine Twerkingpraxis, meine Kontemplationspraxis.

Letztes Jahr gab John-Paul Zaccarini im Rahmen eines dramaturgischen Symposiums, das ich kuratiert habe, in der Central del Circ einen Workshop. Auf seine Anregung hin beschrieb ich dort eine meiner Praktiken mit folgenden Worten (ich kopiere):

Ich widerstehe dem Drang zu leben (für ein paar Minuten)

Ich bekomme nicht genug Sauerstoff

Ich reichere Kohlenstoffdioxid an (CO2)

Ich beruhige mein Herz

Ich beruhige euer Herz

Ich lasse das Blut aus den Extremitäten in die Organe fließen

Ich bekomme einen kurzen Blackout

Ich betrachte Menschen, während mein Blackout eintritt

Ich vergrößere meine Lungen

Ich leide

Ich fühle mich allein

Ich fühle mich dem Tod nah

Ich kommuniziere diese Einsamkeit und den Tod

Ich fühle mich lebendig

Ich kommuniziere, dass ich und wir alle lebendig sind

Ich verändere das Zeitempfinden

Manchmal zähle ich die Zeit

Ich bin in Trance

Ich empfinde Kontrolle

Ich dehydriere

Jean-Michel Guy sagt, ich mache zeitgenössischen „Fakirismus“. (Ich lächle.)

Ich interessiere mich sehr für die Techniken der (Selbst) Kontrolle und (Selbst) Manipulation. Anfangs fühlte ich mich angezogen vom wahrhaftigen und realen Aspekt sensorischer, emotionaler und kognitiver Veränderungen. Also erforschte ich die Techniken der Atemkontrolle (darunter Apnoe und Zirkularatmung), der Unbeweglichkeit und Immobilisierung (Shibari) und anderer BDSM-Praktiken, die mit Kontrolle spielen (Schmerzkontrolle, Machtgefüge usw.) Seit kurzem entwickele ich zunehmend ein Interesse für die Illusion. Dafür, die binäre Unterscheidung zwischen Realität und Illusion aufzuheben. Mich interessiert Illusion als Anstoß der Wahrnehmung. Ich fühle mich angezogen von emotionaler und kognitiver Bewegung.

DIE BEZIEHUNG

Ich konzipiere meine Manipulationen als Einladungen, als Anstoß zur Bewegung auf allen Ebenen, somatisch, emotional, kognitiv usw. In EZ lade ich (einen Teil der) Zuschauer:innen dazu ein, eine Begegnung mit mir auszuhandeln und miteinander etwas aufzubauen. Das wichtigste an diesem „Etwas“ ist das Etablieren einer Beziehung.

Jemanden zum Dialog einzuladen bedeutet, für die Möglichkeit offen zu sein, ein NEIN zu bekommen. Und es ist wichtig, diese Möglichkeit willkommen zu heißen, denn nur so wird ein JA zu einem JA. EZ, der Titel des Stücks, ist eine Referenz an meinen wohl künftigen Deadname (der abgelegte, alte Name einer Person), aber er bedeutet im Baskischen auch „NEIN“. Ich begrüße das NEIN auf der Bühne, damit das JA umso verlässlicher wird.

Mit dem Apnoetraining habe ich allein begonnen, in einer Arbeitsresidenz. Dort trainierte ich Handstand in einem Eimer voll Wasser. Was mich anzog, war die Kontrolle und Entspannung, die es braucht, um den Atem im Wasser anzuhalten. Jede Form von Stress erhöht die Herzfrequenz und damit den Sauerstoffverbrauch und die Bildung von Kohlenstoffdioxid. Das CO2 sagt deinem Körper, dass du stirbst, dass du atmen musst. Du musst deinem Körper antworten, dass es okay ist, dieses Gefühl des Sterbens zu empfinden – dass du damit leben kannst.

Nach der ersten Apnoe-Erfahrung begann ich, mehr darüber zu lesen. Ich erfuhr, dass die oberste Regel beim Apnoetraining ist, nie alleine zu üben. Ich trainierte im Meer und in der Schwimmhalle, und ich öffnete das Studio für andere Menschen. Heute bin ich im Freitauchen zertifiziert. Apnoe ist praktiziertes Alleinsein, obwohl man nicht allein ist. Die anderen begleiten deinen Solotrip, bereit, dich zu retten.

Dieses Wechselspiel aus Alleinsein und Interdependenz bildet auch den Kern von EZ, besonders was die Beziehung zu Freiwilligen aus dem Publikum betrifft, die zu mir auf die Bühne kommen. In EZ geht es um die Neugier und die Zerbrechlichkeit, die existiert, wenn wir uns anderen öffnen. Darum, zu einem Dialog einzuladen, eine Beziehung aufzubauen, Grenzen zu verhandeln, Sorge füreinander zu tragen. Und es ist ein Ritual, mit gewissen Opfern.

Die Wechselbeziehung von Alleinsein und Interdependenz ist auch im Entstehungsprozess einer Soloperformance entscheidend, denn sie ist nie ein wirkliches Solo, auch wenn mensch sich im Vorfeld lange allein in einem Studio verbarrikadiert.

DER KÖRPER (ALS OPFERGABE)

Als junge, weiße und able-bodied Person empfand ich lange Unbehagen, die Bühne zu nutzen. Jetzt, wo ich älter werde und sichtbarer trans* bin, ist es für mich interessanter, meinen Körper auf die Bühne zu bringen.

Die klassische Zirkusdisziplin des Hairhanging wollte ich schon länger erlernen, aber ich wollte auch weiterhin kurze Haare tragen. Ein echtes Hindernis. Deshalb suchte ich einen Weg, meinen Kopf so mit Seilen einzubinden, dass eine Art Kopfgurt entsteht. Ich entwickelte eine Technik, die dem Hairhanging sehr nah kommt. Körperlich betrachtet gleichen sich die zwei Techniken Haar- bzw. (geknoteter) Hopfhang zwar nahezu, mental unterscheiden sie sich allerdings stark. Das Hängen am Haaransatz führt zu einer Streckung und Verlängerung des ganzen Körpers. Das (geknotete) Hängen am Kopf tut dies auch, dazu kommt aber noch die Kompression des Schädels und der Gesichtsnerven. Meine Schädelknochen brauchen nach der Performance eine Weile, um sich wieder auszudehnen, und mein Nervensystem ist spürbar irritiert.

Meine Begeisterung für extreme Praktiken hatte mich fast etwas vergessen lassen: Die involvierten (menschlichen) Körper, die Pflege und sorgsamen Umgang brauchen. Alle nicht-menschlichen Akteure in EZ – darunter Seile, Umlenkrollen und Mikrofone – sind nachhaltig und langlebig, und die Wassermenge, die ich brauche, ist so minimal berechnet, dass ich meinen Kopf mit ausreichend Gegendruck untertauchen kann. Mein Körper jedoch wird geopfert. Ich sehe das Opfer meines Körpers als Gabe. Es ist Teil der Einladung. Es ermöglicht eine Einordnung.

RE-AKTIONEN

Booking-Agenturen haben mir gesagt, EZ sei schwierig zu promoten, weil die starken Bilder - wenn man das Stück noch nicht gesehen hat - im Vorfeld Assoziationen von Gewalt wecken und Angst machen können. Aber es gibt in EZ keine Gewalt. Es gibt nur Fürsorge, selbst wenn sich Schmerz ohne Scham auf der Bühne zeigt.

Wenn ich Freiwillige auf die Bühne hole, bin ich aufgeregt und neugierig auf die Begegnung. Und ich werde jedes Mal überrascht. Grundsätzlich wollen die Menschen mir helfen. Nur was sie als Hilfe verstehen, variiert. Manche versuchen, Bewegungen zu generieren, die sie als Tanz- oder Zirkusgesten empfinden, um damit dem Bühnengeschehen Schönheit zu verleihen. Andere tun lieber nichts und warten auf direkte, klare Ansagen, um mich nicht zu stören. Wieder andere werden hyperaktiv, um richtig zu helfen. Jedes Mal sieht mich der betreffende Mensch mit der gleichen Neugier an wie ich ihn. Ein „Wir“ entsteht, zusammen mit der Frage, wie wir füreinander sorgen können, auf allen möglichen Ebenen.

Wie bereits erwähnt, ist NEIN immer eine mögliche Antwort. Einmal ist es tatsächlich passiert, dass niemand freiwillig auf die Bühne kommen wollte. Es war ein Work in Progress am Ende einer Residenz mit Adele Madau (Sound), Anna Boix Álvarez (Licht) und Saar Rombout (Rigging). Ich war krank und konnte kaum teilnehmen, aber es war die einzige technische Residenz, die ich für EZ bekommen konnte, und wir mussten unbedingt die Lichttechnik austesten. Als ich nach Freiwilligen fragte, herrschte betretenes Schweigen. Am Ende sprang meine Freundin und Dramaturgin Carla Rovira ein, damit die Lichteinstellungen geprüft werden konnten.

Einmal JA zu sagen verpflichtet nicht dazu, auch weiterhin Ja zu sagen. Ein NEIN kann jederzeit entstehen. Wer freiwillig auf die Bühne kommt, kann im nächsten Moment auch seine Meinung ändern. Diesen Umstand akzeptiere ich nicht nur, ich heiße ihn gut. Er ist ein essentieller Teil der Kommunikation, durch die wir unsere Grenzen aushandeln, sie wahrnehmen und achten. Und dafür können wir dankbar sein.

Einer meiner Lieblingsmomente bei EZ ist die Szene gegen Ende, wenn ich am Boden liege und dem Publikum in die Augen schaue. Manchmal dauert es einen Moment, bis sie verstehen, wozu ich sie einlade, und manchmal geht es ganz von allein. Ich sehe es in ihren Blicken. Ich bin wie hypnotisiert von ihren Augen. Und sie sind es auch. Manchmal kommen uns die Tränen. Manchmal lachen wir über die Absurdität der Situation und diesen grotesken Moment. Dieses Aushandeln geschieht gemeinsam mit den anderen und mit mir. In unserem Inneren.

In Prag sagte letzte Woche nach der Performance jemand mit Tränen in den Augen zu mir: „Die Philosophie braucht fünf dicke Bände, um das auszudrücken, was in EZ so offensichtlich ist.“ Hierarchien der Kommunikationssysteme auflösen. Selbstreferenzialität. Ein Blick auf die Stoppuhr: Zeit ist um.


Übersetzt von Anna Ochs

1 Burrows, Jonathan: What would be another word for it? Talk on practice written for DOCH. Stockholm, 2018.

2 Burrows, Jonathan: What would be another word for it? 2018.

3 Coe, Katye: She Dancing. Talk for NottDance. Nottingham, 2017.


Hier geht es zum Trailer von EZ und zum Videointerview A Catalan Journey.

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