Gemeinsam (durch Zirkus) Denken

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Gemeinsam (durch Zirkus) Denken

Bauke Lievens, Quintijn Ketels, Sebastian Kann, Vincent Focquet.

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Handeln, denken, handeln

Es gibt ein Denken ohne Worte. Gedanken ohne Sprache, die sich in Materie oder in Körpern entfalten. Das kann zum Beispiel im Wechselspiel von Zirkuskünstler*in und Objekt geschehen. Oder ein Gedanke materialisiert sich als zirzensische Bewegung. Tatsächlich denken wir im Zirkus durch den Körper: Durch seine „Korporealität“1 formen und performen wir Beziehungen, Gefühle, Zustände und Ideen. In diesem Sinne ist die physische Praxis von Zirkus eine körperbasierte Denkpraxis. Oft wird angenommen, die physische Ausübung und das Denken von Zirkus vollzögen sich zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten, also getrennt voneinander. Diese Trennung führt dazu, dass der Trick im Zirkus als „gedankenleere“ physische Aktion erarbeitet und wahrgenommen wird, die im Anschluss mit beliebigen Bedeutungen und Inhalten angereichert werden kann. Folglich werden die inhärenten Gedanken und Werte, die bereits im Repertoire der Zirkusdisziplinen transportiert werden, verdeckt und verlieren ihre Diskutierbarkeit.

Unsere Welt ist im Umbruch, und Künstler*innen sind Akteur*innen des öffentlichen Lebens. Wenn wir als solche Position beziehen (d.h. wenn wir ein Werk erschaffen), dann indem wir genau das erarbeiten, was wir darstellen und teilen wollen. Deshalb sind Zirkustricks niemals neutrale “Aktionen”: Jeder Trick ist eine Aussage, ein “gedankentragender” Ausdruck einer bestimmten Beziehung zwischen Körper und Welt, zwischen Individuum und Norm, zwischen Performance und Publikum.

Das Buch Thinking Through Circus widmet sich diesen verkörperlichten Beziehungen zwischen zeitgenössischem Zirkus und der heutigen Welt und verteidigt Zirkus als ein Feld, in dem experimentelles Denken bereits stattfindet und auch weiter stattfinden kann. Wir hoffen damit zu einer nachhaltigeren Form von Zirkus beizutragen und die Handlungsfähigkeit und Verantwortung in unserem Bereich zu erweitern.

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Das Buch entstand im Kontext der Circus Dialogues, einem künstlerischen Forschungsprojekt, für das wir, die vier Forscher*innen und Herausgeber*innen des Buches, uns anfänglich mit Fragen zum Thema Freiheit und Handlungsfähigkeit im Bereich Zirkus beschäftigten. Jede*r von uns erlebt als Zirkusschaffende*r, Performer*in und Beobachter*in wiederkehrende Reibungsmomente (oder gar bestimmte Formen von Gewalt) innerhalb der eigenen Praxis. Wir stoßen wiederholt auf Gegenwehr, wenn wir versuchen, etwas zu verändern, einen Schritt voranzugehen oder ein Problem anzusprechen (oder sogar nur Weiterzumachen wie bisher). Deshalb müssen wir uns fragen: Warum und wie arbeiten wir weiter? Zu wessen Nutzen? Und besonders dringlich stellt sich die Frage: Wo finden wir die nötigen Räume und die Energie um unser Weitermachen fortzusetzen?

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Sich einbringen, schreiben, nachsinnen

Kritisches Denken wird nicht selten als Disziplin empfunden, die eine gewisse Distanz voraussetzt. Die Dialoge in unserem Buch zeugen eher vom Gegenteil: Wir befinden uns nie komplett innerhalb oder außerhalb der Systeme und Diskurse, die wir beurteilen. Genauso befinden wir uns nie komplett innerhalb oder außerhalb der Schutzräume, die wir bauen. Es gibt jedoch in der akademischen Welt eine lange Tradition von Forscher*innen, die ihre persönlichen Ansichten und theoretischen Bezugssysteme auf die von ihnen untersuchten Menschen (und die von ihnen geschaffenen Werke) projizieren, unabhängig davon, ob ihre Ansichten und Bezugssysteme von den untersuchten Personen überhaupt geteilt werden. Prozesse dieser Art werden oft gestützt durch die institutionelle Macht der Universitäten innerhalb der heutigen diskursiven, symbolischen Wirtschaft. Die Forschungsarbeit in unserem Buch ist künstlerischer Natur, und wir sind keine Akademiker per se. Da uns aber bewusst ist, dass wir auch institutionell gebundene Forscher*innen und Herausgeber*innen sind, war es uns ein Anliegen, bei der Entstehung dieses Buches mit besonderer Umsicht vorzugehen.

Es lag uns beispielsweise fern, (über) Zirkus “allgemein” zu theoretisieren. Zeitgenössischen Zirkus als Ganzes zum Gegenstand einer Diskussion zu machen, hätte danach verlangt, ihn zu definieren und über seine Grenzen zu urteilen. Es wäre an uns gewesen festzulegen, was Zirkus ist und was nicht. Derart abstraktes, normatives Denken neigt dazu, Potentiale zu schmälern und Ausgrenzungsmechanismen zu schaffen – also genau das, wogegen wir anzugehen versuchen. Vielmehr wollten wir zusammen mit anderen denken, um die Standpunkte und Herangehensweisen zu vervielfältigen. Infolgedessen reflektiert unser Buch nicht über Zirkus sondern durch spezifische Zirkuspraktiken. Wir hoffen, dass die schriftliche Veröffentlichung unseres Gedankenaustausches von Zirkusschaffenden den Begriff davon erweitert, was es heißt, Zirkuskünstler*in zu sein. Genauso wünschen wir uns, dass unsere Schrift gewordenen Dialoge innerhalb der Disziplinen, die sie sichtbar machen, produktive Resonanz erzeugen.

Das geschriebene Wort kann kritisieren, überzeugen oder einen bestimmten Punkt erörtern. Aber es ist auch dazu fähig, das, was bisher ungeahnt oder unvorstellbar war, ins Leben zu rufen. Diese Kraft der Fantasie und der Vorahnung war für uns mehr als alles andere der Beweggrund, dieses Buch zu machen. Im Schreiben erschaffen wir mit kleinem Budget große Visionen. Für einen Moment lassen wir die praktischen, institutionellen und gesellschaftlichen Barrieren beiseite, die ein Wahrwerden dieser Träume – vorerst noch – unmöglich machen und lenken so die Aufmerksamkeit auf sie. Mehr noch, wir haben entdeckt, dass Gespräche über neue Räume oft zu neuen Räumen werden: intime Gemeinschaftsorte, die Kraft geben und sich selbst regenerieren. Durch Sprache schaffen wir Raum für Taten. Indem wir etwas beschreiben, wird Unsichtbares spürbar. Das Hineinspüren in die Welt bewegt uns zum Schreiben.

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Lesen

Eine Frage, die sich den Leser*innen vermehrt stellen mag, ist die der Lesbarkeit. Genauso, wie der Wunsch bestand, in unserem Buch Raum für „ungewohnte“ Inhalte und Stimmen zu öffnen, waren wir auch neugierig auf „ungewohnte“ Stilformen und Beziehungen zu Sprache. Gleichzeitig wurden an uns als Herausgeber*innen und künstlerische Forscher*innen im Rahmen unserer Einbindung in Institutionen aber auch Erwartungen hinsichtlich der Lesbarkeit und des Inhalts gestellt. Wie weit sollten wir also die Stimmen des Buches bearbeiten und formen, um zu vermitteln? Wie können wir den Ansprüchen an die Lesbarkeit gerecht werden und dabei trotzdem die Einzigartigkeit jeder Stimme und jedes sprachlichen Standpunkts achten? Wie und in welchem Umfang können wir diese Stimmen ins Netz der Machtverhältnisse einweben, die den bestehenden Diskurs in und über künstlerische Forschung strukturieren? Künstlerische Recherche tendiert dazu, konkrete Beispiele und Erfahrungswerte körperbasierter Praxis mit breiteren sozialen und politischen Themen zu verbinden, sich also vom Mikrokosmos hin zum Makrokosmos zu bewegen. Aber nicht alle Künstler*innen teilen diesen Ansatz und wollen ihr künstlerisches Schaffen als Dialog mit einem größeren Phänomen beschreiben. So kam es, dass wir manchmal zerrissen waren zwischen dem intuitiven Wunsch, die Besonderheit der entstehenden Texte zu erhalten, und unserer Rolle im institutionellen Gefüge gerecht zu werden - einmal ganz abgesehen von unseren persönlichen Überzeugungen, was gutes Schreiben über Kunst tun oder nicht tun sollte. Wir sind uns dieser Ambivalenz bewusst und hoffen, es ist uns gelungen, Texte zu verfassen, die einen Raum im Grenzbereich von künstlerischer Forschung und Zirkus öffnen – einen Raum, aus dem eine kritische gegenseitige Befragung erwachsen kann.


LIEVENS, B., KETELS, Q., KANN, S., FOCQUET, V. (Eds.). (2020). Thinking Through Circus. Ghent: Art Paper Editions (APE). Bislang nicht auf Deutsch erschienen.

Aus dem Englischen übersetzt von Anna Ochs.

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