Grenzüberschreiter - Julian Vogel – Artist, Keramikkünstler und Tüftler
Von Mirjam Hildbrand
Der Schweizer Künstler Julian Vogel/Cie. unlisted zeichnet sich durch seinen künstle- rischen Ansatz an der Schnittstelle von Zir- kus, Performance und Bildender Kunst aus. Ausgehend von Objekten, ihrem Zusam- menspiel mit dem Körper und den Eigen- schaften von Materialien, kreiert er szeni- sche Universen. Julian Vogel ist Zirkusartist, Performer, Handwerker und Tüftler in einem. Mit seinen performativen und installativen Arbeiten aus Keramik hat er sich in den ver- gangenen Jahren einen Namen gemacht. Projekte wie die „China Series“ (2017–21), ein 20-teiliges, multidisziplinäres Kunstpro- jekt, die großformatige begehbare Raum- installation „Crescendo“ (2024) oder die Bühnenproduktion „Ceramic Circus“ (2024) markieren wichtige Stationen seines Schaffens. Doch alles begann – eher zufällig – mit einem Diabolo.
Die Beschäftigung von Julian Vogel mit dem Jonglage-Objekt seiner Zirkusdisziplin, dem Diabolo, nahm ihren Ausgangspunkt während seiner Ausbildung an der Academy for Circus and Performance Art (ACaPA) in Tilburg (NL). „Eigentlich ein Zufall“, sagt er, „denn es hätte sich genauso gut um ein ganz anderes Objekt handeln können“. Jedenfalls fiel ihm eines Tages in der Küche die Ver- wandtschaft von seinen Diabolos – in der Regel bestehend aus zwei weißen, mit einer Achse zusammengehaltenen Gummischa- len – mit herkömmlichen Suppenschalen aus Porzellan auf. Was also, wenn die Gum- mischalen durch Porzellanschalen ersetzt würden? Das wollte ausprobiert werden.
Aus einem ersten Experiment entspann sich ein mehrjähriger Arbeitsprozess, den Julian Vogel auch wiederholt als Residenzkünstler an das internationale Residenz- und Exzel- lenzzentrum für Keramik EKWC in den Nie- derlanden führte. Einblicke in sein Schaffen gab Vogel seriell. In „China Series“ – der englische Begriff „China“ verweist hierbei auf Porzellan – entwickelte der Künstler vielfältige Formate von Performances über installative Szenerien bis hin zu Klang- und Videoinstallationen, nummeriert mit Hash- tags von #1 bis #20. Julian Vogel beschreibt, dass er dabei immer von der Frage ausging, was ein spezifisches Objekt erfordert, also welches Format, welche räumliche Szene- rie oder welche Szene ein Objekt benötigt. So stehen in den verschiedenen Formaten von „China Series“ die Diabolos aus Kera- mik im Zentrum – nicht mehr zwingend als Diabolos erkennbar, teils skulptural und teils ganz fragil. Im Zusammenspiel mit seinem Körper, manchmal sogar mit derjenigen der Zuschauer:innen, oder aber mithilfe klei- ner Motoren und Fließbänder versetzt der Künstler sie in Bewegung.
In „China Series“ drehen sich die Ob- jekte um ihre eigene Achse, rollen, erzeugen Klänge (die je nach Brenngrad variieren), lösen sich im Wasser wieder in ihren Aus- gangszustand auf und gehen manchmal auch zu Bruch. Übrig bleibt dann ein Scher- benhaufen. Die Zehntelsekunden vor dem Zerbrechen lassen uns die dem Zirkus so eigentümliche Spannung erleben. Es ist diese prickelnde Anspannung, auf die, nach dem Glücken eines risikoreichen Tricks, ein erleichtertes Aufatmen folgt. Im Kontext des Zirkus erwarten wir als Zuschauer:innen, dass die auftretenden Künstler:innen über entsprechende Fähigkeiten verfügen, die das Gelingen ihrer Darbietungen gewährleis- ten. Gleichzeitig haben wir immer auch die Möglichkeit des Misslingens im Bewusst- sein, daraus resultiert die Spannung und unser Mitfiebern. Und sobald ein Kunststück im Zirkus tatsächlich einmal misslingt, sind wir betroffen: Wir leiden mit oder ärgern uns über Unprofessionalität oder allenfalls über fehlende Sicherheitsvorkehrungen.
Die Jonglage-Objekte von Julian Vogel in „China Series“ aus Keramik sind im Ge- gensatz zu den Diabolos aus Gummischalen leicht zerbrechlich, das liegt in der Natur ih- res Materials. Bei den performativen Forma- ten in „China Series“ erhöht unser Wissen um die Bruchgefahr die Zirkusspannung: „Ufffff“ oder „wow“, so lautet ungefähr der Subtext des Publikums, „der Trick ist gelun
gen, das Diabolo ist heile geblieben!“ Doch fallen die Jonglage-Objekte hier eben auch herunter und zerbrechen – das ist natürlich intendiert. Es verleiht der Arbeit ihren Witz. Und es kommt dabei auch zu einem Spiel mit den allgemein bekannten Regeln des Zirkus. Zugleich erinnern das Zerbersten der Kunstobjekte in Anwesenheit von Publi- kum, die Scherben und auch die räumlichen Settings an Happenings der Performance- kunst. Gekonnt überschreitet Julian Vogel mit seinen Arbeiten konventionelle Sparten- und Genregrenzen. Spielerisch verbindet er Ästhetiken und Arbeitsweisen der Darstel- lenden Künste wie Zirkus und Performance mit denjenigen der Bildenden Kunst wie Keramikkunst, Installation und Happening.
Für den Künstler selbst spielen diese Kategorisierungen jedoch keine Rolle, zu- mindest nicht beim Entwickeln der Arbei- ten. Jenseits der Bühne verbringt Julian Vogel unzählige Stunden in Werkstätten, Probe- und Trainingsräumen. Seine Arbeits- prozesse sind lang, zeitintensiv und sehr körperlich – sie bestehen nicht nur aus dem permanenten Training, das alle Zirkuskünst- ler:innen begleitet, sondern auch aus Kera- mikgießen, Bohren und Schrauben, Löten und Schweißen. Julian Vogel verortet sein Schaffen klar im Zirkus. Das mag vielleicht überraschen, doch mit Blick auf die Ge- schichte des Zirkus kann festgehalten wer- den, dass sich die Praxis von Zirkuskünst- ler:innen immer schon durch eine Mischung aus Training spezifischer körperlicher Fähigkeiten, handwerklichen Tätigkeiten und Tüftelei auszeichnete. Die Arbeiten von Julian Vogel entstehen aus der Bewegung und seiner physischen Praxis und sind an- getrieben von einer unbändigen Neugier. Von den Fragen oder Herausforderungen, die im Prozess aufgeworfen werden, lässt sich der Künstler leiten. Etwa wenn es dar- um geht, technische Lösungen dafür zu fin- den, ein Diabolo in Bewegung zu versetzen, ohne Zutun des körperlichen Spiels. Es ist eine Praxis, die offenliegenden Fragen und gefundenen Spuren nachgeht. In diesem Zusammenhang erstaunt es nicht, wenn der Künstler sagt: „‚China Series‘ ist nicht erfun- den, es ist gefunden.“
Genauso wenig im Kopf oder auf dem Reißbrett ist die jüngste Arbeit von Julian Vogel entstanden. Mit seinem einstündigen Bühnenstück „Ceramic Circus“ hatte er im Oktober 2024 Premiere im renommierten Kulturzentrum Les Subsistances in Lyon und ist seither international auf Tournee. Das Stück ist zum einen eine konsequente
Weiterentwicklung des mit „China Series“ begonnenen künstlerischen Schaffens und zum anderen resultiert es aus dem Bedürfnis, mit dem Publikum in Interak- tion zu treten. „Denn das ist es“, entfährt es dem Künstler im Gespräch, „das mir Spaß macht!“ Daneben war auch die Lust, einen präzisen Trommelwirbel zu kreieren, Fahr- rad zu fahren und Rollschuh zu laufen. Sei- ner Lust ist Julian Vogel gefolgt und hat in einem mehrmonatigen Arbeitsprozess trai- niert, probiert, getüftelt und getestet – und langsam und mit Unterstützung von Bera- ter:innen und Mitdenker:innen ein Stück entwickelt.
Nach der Aufführung würden ihn vie- le Zuschauer:innen fragen, ob denn dieses oder jenes genau so geplant gewesen sei. „Ja, das meiste ist geplant“, lautet die Ant- wort. „Aber“, gibt Julian Vogel zu bemerken, „es ist eben auf eine Weise geplant, die eine gewisse Offenheit zulässt, nämlich dass in jeder Aufführung etwas passiert, das genau so gar nicht planbar gewesen wäre.“ Ob- gleich dieser Moment – also dann, wenn das erwartet Unerwartete in Anwesenheit des Publikums passiert – für den Bühnen- künstler unangenehm und herausfordernd ist, so ist es doch derjenige Moment, der ihn inspiriert und antreibt: „Wenn plötzlich etwas Unvorhergesehenes passiert, ist es vielleicht irgendwie schmerzhaft, aber eben unheimlich spannend – und lustig. Dann fängt es an zu leben.“
Die zwei Schalen des Diabolos bilden in dieser Arbeit zwei Hälften einer Kugel. Im Rhythmus einer kreisenden Keramikku- gel entfaltet sich der „Ceramic Circus“ von Julian Vogel langsam und mündet in einer spannungsgeladenen und trommelnden Achterbahnfahrt. Und auch in diesem Fall bedeutet das Zusammentreffen von Kera- mik und Zirkus: Bruchgefahr.
Julian Vogel wuchs in Luzern auf und studier- te Psychologie und Kunstgeschichte an der Universität Bern und daraufhin an der Acade- my of Circus and Performance Art in Tilburg/ NL, mit Fokus auf das Diabolo. Während der Ausbildung begann er seine Arbeit an „China Series“, einer Reihe von Performances, Ins- tallationen und Videos rund um das Diabo- lo, das er selbst aus Keramik herstellte. Mit diesem interdisziplinären Projekt zwischen Zirkus, Performance und Bildender Kunst war er Preisträger im europäischen Förder- programm Circus Next 2020/21. Julian Vogel ist Mitgründer der Compagnie Trottvoir (2012) sowie KLUB GIRKO (2017), mit denen er meh- rere Projekte im Bereich der Darstellenden Künste realisierte. Er arbeitete außerdem mit der Compagnie sh. und Panama Pictures (NL), bei der er seit 2021 assoziierter Künstler ist. 2023 gründete Julian Vogel seine Compag- nie Cie. unlisted. Im Jahr 2024 erhielt er von Les SUBS in Lyon den Auftrag, eine Installa- tion und Szenografie für ihr Sommerfestival zu gestalten, wobei die großformatige Arbeit „Crescendo“ entstand. Im selben Jahr kreierte Julian Vogel „Ceramic Circus“. Die Projekte „Ceramic Circus“ und „China Series“ sind der- zeit europaweit auf Tournee. Der Künstler lebt in Basel und ist als Autor, Performer, Produzent oder Sound Designer in verschiedene Projekte in der Schweiz und Europa involviert. Von der Kaserne Basel wurde er für ihr Artist-LAB-Programm in der Saison 2025/26 ausgewählt. www.julianvogel.ch
Der Artikel erscheint im Rahmen der VOICES Magazinreihe des CircusDanceFestival Köln.
Kommende Aufführungen „Ceramic Circus“ CircusDanceFestival Köln
6. Juni 2025
7. Juni 2025, mit Artist talk www.circus-dance-festival.de
cirqu‘ Aarau 15. Juni 2025, 18. Juni 2025 www.cirquaarau.ch