Instinkt und Lachen

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Instinkt und Lachen

Leo Bassi und die politische Mission des Clowns

Leo Bassi interviewed von Jenny Patschovsky

Leo Bassi kommt mit einer Schere in der Hand von der Bühne herunter, um sich unter das Publikum zu mischen. „Heute ist Ihre Chance, der Welt ein Zeichen zu setzen, heute könnte einer von Ihnen ein Held sein“, sagt er. Er wartet darauf, dass jemand aufsteht und sich von ihm das Etikett aus der Kleidung schneiden lässt. Er baut Spannung im Raum auf, die Leute haben Angst, er könnte willkürlich auswählen und der Erwartungsdruck des Publikums könnte es unmöglich machen, sich seinem Wunsch, das teure Hemd zu zerstören, zu widersetzen. Ein Mann steht auf. Alle jubeln ihm zu. Dies ist sein großer Moment, um der Welt zu zeigen, wie man sich zu verhalten hat. Bassi schneidet das kleine Logo der Sportfirma aus dem T-Shirt. Einige applaudieren für diese Aktion, andere fühlen sich sehr unwohl bei dem, was da passiert...

Du kommst aus einer sehr alten, traditionellen Zirkusfamilie und bist als junger Mann mit Jonglage und Antipoden-Artistik aufgetreten. Wann und vor allem warum hast du dich entschieden, diesen Weg zu verlassen und als Clown zum politischen Aktivisten zu werden?

Das war, als ich 26, 27 Jahre alt war. Ich war in einer BBC-Show namens The Good Old Days, einer sehr berühmten Show, in der alte Varieté- und Zirkusnummern wie um 1900 präsentiert wurden. Ich fand es toll, im Fernsehen zu sein. Und dann wurde mir während des Auftritts klar, dass ich Teil einer Nostalgie war. Ich war 26, 27 Jahre alt, aber ich wurde benutzt, um über die Vergangenheit zu sprechen, über die alte Zirkuswelt. Aber mit 26 Jahren wollte ich nicht Teil einer Nostalgie sein. Ich war stolz darauf, ein wirklich guter Fußjongleur zu sein, ein Antipodist. Ich war mit der Vorstellung aufgewachsen, dass
Menschen aus der Arbeiterklasse so etwas machen, um die Leute zu überraschen. Aber dann wurde mir klar, dass das überhaupt nicht meine Welt war. Ich arbeitete für alte Leute, die an die Vergangenheit dachten. Und so beschloss ich ein paar Wochen nach der Show, nicht mehr im Zirkus zu arbeiten, nicht mehr im Varieté, sondern nur noch auf der Straße, um ein neues Publikum zu erreichen. Ein Publikum in meinem Alter oder jünger, und für die Arbeiterklasse. Und da wurde mir klar, dass es kein ästhetisches, sondern ein politisches Problem war, dass wir Zirkusartisten unsere Mission des politischen Statements für die Arbeiterklasse vergessen hatten. Wir waren zu Nostalgie für Kinder geworden. Wir hatten die wahre Bedeutung der Dinge aus den Augen verloren. Und ich fragte mich: „Was sollte ich als jemand aus der Arbeiterklasse tun? Wie konnte ich frei sein? Wofür sollte ich kämpfen?“ Und sehr schnell begann ich zu erkennen, dass es große Probleme gab. Dass die Welt nicht so demokratisch ist, wie sie scheint. Dass wir ständig und überall kontrolliert werden. Dass Dinge durchbrochen werden mussten. Dass die Arbeiterklasse in ihrem Stolz bestärkt werden sollte - die Idee der Demokratie ist schließlich, dass wir alle gleich sind, und nicht, dass die reichen Leute mehr Rechte haben als die armen. Von diesem Moment an war mir klar, dass ich eine Aufgabe im Leben hatte und dass ich meine Erfahrung als Clown nutzen konnte, um diese Dinge zu sagen. Und das ist vielleicht stärker, als nur rational zu sein und darüber zu sprechen. Dass man die Menschen mit merkwürdigen Dingen überraschen kann, wie es meine Familie schon immer getan hat. Und mit der echten Zirkusbedeutung hinter dieser Freiheit, der Idee, frei zu sein.

Das vielleicht stärkste Stereotyp der Clownsfigur ist die rote Nase. Warum trittst du fast nie mit einer roten Nase auf?

Ich kann mich erinnern, als ich 6 oder 7 Jahre alt war, fragte mich meine Großmutter: „Weißt du, warum Clowns rote Nasen tragen?“ Und sie hat es mir erklärt. Vor langer Zeit, im 19. Jahrhundert, haben sich die Menschen ständig betrunken. Die Unterschicht, die Arbeiter waren betrunken, und sie kotzten auf den Bürgersteig. Die reichen Leute sahen sie an und sagten: ‚Ooohh!‘ Aber es gab Gründe sich zu betrinken. Es gab Gründe, arm zu sein. Es ist leicht, nicht betrunken zu sein, wenn man reich ist; es ist weniger leicht, wenn man 18 Stunden am Tag arbeitet, damit die Leute aus der Oberschicht sich gute Schuhe und gute Sachen kaufen können. Deshalb hat der Clown eine rote Nase, um auf der Seite der Betrunkenen zu stehen, auf der Seite der Armen. Er verteidigte die Menschen, die sich schlecht fühlten, denen es nicht gut ging, und er machte sie stolz. Das ist auch der Grund, warum die Clowns bunte Kleider und große Schuhe trugen. Nur reiche Leute konnten sich Schuhe nach Maß anfertigen lassen, die armen Leute bekamen in der Regel Schuhe weitergereicht, und das Beste war, sich einen großen Schuh zu ergattern und dann Zeitungspapier reinzulegen. Was macht der Humor? Er steigert das Ganze um das Fünffache. Anstatt die Schuhe nur ein bisschen größer zu machen, hat der Clown riesige Schuhe und noch buntere Kleider, und er ist stolz darauf. Und in seinem Stolz lässt er auch das Publikum stolz sein, trotz seiner Armut. Wenn ich also die neuen Clowns sehe, die dies nutzen, aber nach einer ästhetischen Form von mystischer Poesie suchen, dann geht das am Thema vorbei. Sie treffen nicht den Kern der Sache. Die eigentliche Idee war es, sich gegen die Verlogenheit und die Ungerechtigkeiten in unserer heutigen Gesellschaft zu wenden. Es gibt immer noch Menschen, die zu reich sind, und Menschen, die zu arm sind. Heute haben wir die gleichen Probleme wie vor hundert Jahren, aber die Realität ist eine andere. Jede Generation hat ihre eigene Art von Comedy. Und ich glaube nicht, dass die jungen Leute heute nostalgisch sein sollten. Wir dürfen nicht nostalgisch sein. Nostalgie ist etwas Falsches.

Was hat sich deiner Meinung nach in den letzten 50 Jahren beim Clown verändert?

Jede Epoche in der Geschichte hat ihre Clowns gehabt. Es gibt nicht nur eine einzige Art von Clownerie. Wir passen uns ständig an, und das Lachen ist immer da. Ich bin sicher, dass die Menschen vor 5000 Jahren über ihre Probleme gelacht haben. Und heute haben wir andere Probleme. Die Welt hat sich verändert, und der Stil der Clowns hat sich verändert, aber nicht die Bedeutung. Und das ist ein bisschen das Problem, das ich beim Neuen Zirkus gesehen habe, dass ein Clownerie-Stil entstanden ist, aber es gab nie einen Clownerie-Stil. Jede Generation hat ihn neu geschaffen. Die Clowns mit den roten Nasen und all das gab es vor 200 Jahren noch nicht. Erst vor etwa 150 Jahren hat sich jemand eine rote Nase aufgesetzt. Clownerie kann so sein, wie man es haben will. Es kann Make-up sein, aber es kann auch das sein, was ich viele Jahre lang gemacht habe, verkleidet als Geschäftsmann. Das war mein bekanntes Image. Ich trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine Krawatte und eine Brille. Ich habe mich als Bankangestellter verkleidet, um mich über die Bankleute und die Politiker lustig zu machen und sie als Narren bloßzustellen. Traditionell betonen Clownskostüme das, was an der Menschheit blödsinnig ist. Der Stil ist anders, aber die Bedeutung ist traditionell. Auch hier geht es um die Idee einer Arbeiterklasse, die gegen eine höhere Klasse und die Macht kämpft. Ich lasse mich nicht von der Vorstellung einschränken, was Zirkus ist und was er nicht ist. Es gibt zwei Dinge: Es gibt den Spirit, und es gibt die Konvention. Jede Generation benutzt den Spirit, aber man muss den Spirit haben. Ich sehe manchmal Leute, die wie Clowns gekleidet sind, aber nicht den Spirit haben. Es geht nicht um den Stil, es geht um den Spirit. Und beim Spirit geht es darum, gegen Scheinheiligkeit zu kämpfen und zu spüren, dass Humor eine sehr, sehr gute Waffe ist.

Wie zeigt sich der Clown in deinem Leben abseits der Bühne?

Ich bin ein sehr ernster Mensch. Ich glaube, hinter der Kunst des Clowns steckt eine Menge Denkarbeit. Ich betrachte mich in gewisser Weise als Journalist. Ich liebe es, Informationen zu beschaffen, und ich benutze diese Informationen, um Witze zu machen. Mein erfolgreichstes Projekt ist vielleicht meine Kirche, die Plastikenten gewidmet ist, mit Clowns als Priestern. Diese Kirche ist sehr klein, aber sie hat eine sehr große Wirkung. Wir halten Gottesdienste ab, wir schließen Ehen. Wir führen alle üblichen Kirchendienste durch. Wir übernehmen sogar Beerdigungen. Dahinter steckt die Idee, dass ich zu den Ritualen zurückkehren wollte. Es geht nicht um Unterhaltung oder Dinge, die man intellektuell versteht, sondern darum, die Leute zu packen. Und in meiner neuesten Show Yo, Mussolini spiele ich Mussolini. Wir haben einen starken rechten Flügel in Italien und in Spanien. Diese Leute kommen zurück. Was können wir tun? Gut ist es, Witze darüber zu machen. Und wer könnte faschistischer sein als Benito Mussolini, der den Faschismus erfunden hat? Mein Wunsch, Clown zu sein, bringt mich direkt zurück in das Kostüm von Benito Mussolini. Ich bin in Rom als Mussolini aufgetreten, und das mit der rechtsgerichteten Regierung von Giorgia Meloni. Ich habe das in ganz Spanien gespielt, wo es noch viele Franco-Anhänger gibt. Und jetzt werden wir dieses Jahr in Deutschland an verschiedenen Orten arbeiten, wo die AfD im Moment sehr präsent ist. Mussolini kommt also zurück, und ich denke, das ist lustiger als mit einer roten Nase aufzutauchen und Clownerie zu betreiben.

Warum denkst du, dass die Clownerie ein geeignetes Mittel für die Auseinandersetzung mit politischen Themen ist?

Es geht um den Instinkt und das Lachen. Humor kann sehr mächtig sein. Kriege beruhen auf Instinkt. Und Lachen basiert auf Instinkten. Das ist es, was wir nutzen. Wir berühren die gleichen Ebenen der Dinge. In einem Krieg geht es darum, die Instinkte der anderen Person zu zerstören. Lachen ist dazu da, die eigenen Instinkte zu stärken. Wenn du jemanden zum Lachen bringst, fühlt diese Person sich gut und bekommt leichter Zugang zu ihren Instinkten. Das ist das Gegenteil von dem, was ein Krieg bewirkt. Kriege zertrümmern die Instinkte. Ich übe meinen Beruf als eine Mission aus. Die Mission, laut auszusprechen, was die Arbeiterklasse und die kleinen Leute denken. Dinge, von denen die Machthabenden beschlossen haben, dass sie nicht gesagt werden dürfen.

Wie erreichst du die Menschen, die deiner Weltanschauung nicht zustimmen, die nicht zu deinen Shows kommen, die du kritisierst?

Ich lebe seit 25 Jahren in Spanien, und ich bin in Spanien sehr bekannt. Ich bin so bekannt, dass meine Feinde, die sehr extremen Rechten, Bomben in dem Theater, in dem ich gerade spielte, und in meiner Kirche gelegt haben. Meine Kirche wurde 2016 in Brand gesteckt. Ich berühre also die Menschen. Die Wirkung muss stark sein, wenn sie mich umbringen und meine Sachen abbrennen wollen. Das ist ein guter Maßstab für die Wirkung, die ich habe. Das bedeutet, dass ich ziemlich erfolgreich bin, und andererseits habe ich eine sehr große Fangemeinde. Viele Leute kennen mich.

Du hast auch an Aktionen von Clowns ohne Grenzen teilgenommen. Wie wirken sich diese Erfahrungen auf dich aus, wie kommen sie auf die Bühne zurück?

Man kommt mit einem tieferen Gefühl zurück, für das, was man tut. Man spürt die Welt der Instinkte, die man berührt, Dinge, die sehr mächtig sind. Ich glaube, wenn man mit Geflüchteten oder in Kriegsgebieten arbeitet, versteht man eine Menge. Das macht einen stärker. Und man versteht die Macht des Humors. Wenn ein Soldat vorbeikommt, ein Gewehr in die Luft streckt und sagt: „Verschwindet hier!“, dann erzeugt das das Gefühl, dass es wichtig ist, was man tut. Es kann als etwas Aggressives oder als eine Bedrohung angesehen werden. Der Typ ist schwer bewaffnet mit einem Maschinengewehr, und man selbst ist nur als Clown verkleidet. Er muss seine Ideen mit einer Maschinenpistole gegen Witze verteidigen. So bekommt man ein viel tieferes Gefühl für die eigene Arbeit, und man verbindet sich mit dem wahren Grund, weswegen es Clowns gibt.

In Deutschland beobachte ich gerade eine Welle von neuem Interesse am Clown. Was rätst du denjenigen, die auf der Suche nach ihrem Weg sind?

Höre auf deinen Instinkt, um die Leute zum Lachen zu bringen. Aber um andere Menschen zum Lachen zu bringen, muss man wissen, was andere Menschen lieben, warum sie es lieben und was sie brauchen. Mach den Clown nicht für dich selbst. Das Schlimmste, was ich erlebt habe, ist, dass man Clown als Therapie für sich benutzt, um sein inneres Selbst zu entdecken. Bei der Clownerie geht es darum, Menschen zu erreichen. Überlege dir, wen du zum Lachen bringen willst. Versuche zu verstehen, worum es in der Welt dieser Menschen geht. Du musst in ihre Welt eintreten, und wenn du drin bist, dann nutze deinen Instinkt, deine Kreativität, um Späße zu machen, um zum Lachen zu bringen. Ich bin jetzt 71 Jahre alt, und es ist ein fantastisches Leben. Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich am Anfang stehe. Clown sein ist ein langsamer Prozess. Mach dir keine Sorgen, die Dinge entwickeln sich von selbst. Sei aufrichtig und ehrlich. Es gibt keine Verbote. Alles kann lustig sein. Es gibt absolut keine Regeln. Und ich glaube nicht, dass es dafür wirklich irgendeine Schule gibt. Clownerie ist eine Explosion des Lebens. Das Leben hat etwas Gutes in dieser Energie, es befreit die Dinge. Vielleicht war der erste richtige Scherz der Urknall. Bevor die Welt existierte, war alles so ernst. Es war so langweilig, dass irgendetwas daherkam und sagte: Wir werden die Dinge ein bisschen durchschütteln und einen Witz machen.

Was beschäftigt dich zurzeit?

Ich interessiere mich momentan für die Rückkehr zum Ritual, für die Faszination, etwas zu erleben, Teil von etwas zu sein. Es ist kein intellektuelles Gefühl, sondern ein primitives und sehr tiefes Gefühl. Ich lebe in der Umgebung von Madrid in den Bergen. Ich habe hier ein Stück Land gekauft und bin dabei, eine Art Stonehenge mit großen Felsbrocken zu errichten. Ich möchte erforschen, was ein Ritual war, als es noch keine Gebäude und Zelte gab, als man noch draußen war und Steine hatte. Ich baue also eine große Ansammlung von Steinen, und das ist meine Art von Heiligtum. Das Projekt befindet sich noch im Aufbau, und es wird vielleicht noch sechs Monate dauern, bis wir hier Veranstaltungen abhalten können. Neolithischer Zirkus.

Das klingt spannend. Vielen Dank für das Gespräch.

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