(More than) Human? Inszenierungsstrategien im Zeitgenössischen Zirkus

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Charlène Dray, Nathalie Guimbretière: HIBRIDES, Screenshot aus einer Videoaufzeichnung © Agathe Catel

(More than) Human? Inszenierungsstrategien im Zeitgenössischen Zirkus

Franziska Trapp

The force of art is precisely that it is more than human.1

In den letzten Jahrzehnten hat der non-human turn Einzug in die Geisteswissenschaften gehalten. Er wird „als neue Paradigma abendländischen Denkens“2 verhandelt und umfasst eine Vielzahl an Strömungen, wie z.B. den Neuen Materialismus, den Spekulativen Realismus, die Animal Studies oder den Posthumanismus. Sie alle eint das Interesse, entgegen der Dominanz anthropozentrischer Perspektiven nicht-menschliche Entitäten, Prozesse, Handlungsfähigkeit und Performativität in den Mittelpunkt zu stellen. Wirft man einen Blick auf die aktuelle Zirkusszene, wird deutlich, dass dieses Umdenken keineswegs auf die akademische Welt beschränkt ist, sondern auch in (Interaktion mit) der künstlerischen Welt stattfindet.3

  1. Human und Non-human im (Zeitgenössischen) Zirkus

Was Erin Manning in ihrem Artikel „Artfulness”4 für Künste im Allgemeinen formuliert – „The force of art is precisely that it is more than human.“5 – gilt insbesondere auch für den Zirkus. Zirkus ist more-than-human insofern, als jede Zirkusdisziplin grundlegend auf der Interaktion von menschlichen und nicht-menschlichen agents basiert.6 Als nicht-menschliche Handlungsträger werden in diesem Fall sowohl Objekte (z.B. Jonglagebälle), Technologien, Apparaturen (z.B. das Trapez) und Tiere als auch Kräfte (z.B. Schwerkraft) verstanden. Nur in Verbindung mit diesen nicht-menschlichen Entitäten ist die Ausführung der Zirkusdisziplinen überhaupt erst möglich. Doch obwohl im Zirkus die Interaktion von menschlichen und nicht-menschlichen Handlungsträgern grundlegend ist, sodass man ihn als relationale Kunstform7 definieren könnte, sind Zirkusaufführungen nicht per se Teil des non-human turn.

Im Gegenteil: Der Traditionelle Zirkus propagiert u.a. mithilfe einer babylonischen Programmstruktur, die die Elemente nach Schwierigkeitsgrad staffelt, und der Unterstreichung der Ästhetik des Risikos durch Trommelwirbel und das dreimalige Misslingen von Tricks8 die außergewöhnlichen, heroischen Fähigkeiten des Menschen. Er kann dadurch als Sinnbild für den Anthropozentrismus gesehen werden.

Im Zeitgenössischen Zirkus, der seit Ende der 1990er Jahre Einzug in die internationale Kunst- und Theaterlandschaft hält, sind wir in diesem Zusammenhang mit dem Paradox konfrontiert, dass die Beherrschung der Apparaturen die Voraussetzung ist, um eben jene Beherrschung zu problematisieren.9 Wenn wir also davon ausgehen, dass ein zeitgenössisches Zirkusstück als Stück des non-human turn klassifiziert werden kann, steht nicht die tatsächliche Veränderung der Relation von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten im Vergleich zum Traditionellen Zirkus im Fokus, sondern vielmehr die Veränderung der Inszenierung dieser Relation, die die Rezipient:innen zu einem Perspektivwechsel einlädt.

  1. Inszenierungsstrategien nicht-menschlicher Akteure

Die Strategien, die im Zeitgenössischen Zirkus genutzt werden, um das anthropozentrische telos zu unterlaufen, sind vielfältig. Daher kann im Rahmen dieses Textes nur ein beispielhafter Einblick gegeben werden:

Die Companien Hors Systèmes, Baro D‘Evel und Cie Sacekripa haben sich in ihren Stücken zum Beispiel auf den Einsatz von (Haus-)Tieren spezialisiert. Im Unterschied zu traditionellen Zirkusstücken wird in diesen Performances den Tieren eine anregende Umgebung geboten, auf die diese reagieren (können). Die Rezipient:innen verfolgen ein Geschehen, das zu einem großen Teil unvorhersehbar bleibt.

Jongleure wie Julian Vogel in „China Series“, Darragh McLoughlin in „Stickman“, Andrea Salustri in „Materia“, Benjamin Richter in „TAKTiL“ und Müller & Müller in „OI+IO“ legen in ihrer Arbeit den Fokus auf nicht-menschliche Performer:innen/Objekte. Ihre Stücke basieren auf ausgiebigen Materialrecherchen (u.a. Porzellan, Holz, Styropor), die durch Ausstellungsformate angereichert werden. So rollen in Julian Vogels „China Series #5“ beispielsweise Teller, die wie Diabolos zusammengeschraubt wurden, an langen Fäden von rechts nach links über die Bühne. Vogel selbst bleibt (als Marionettenspieler) im Hintergrund. Der Fokus wird auf die Bewegungsqualität und die spezifische Materialität der Objekte gelenkt, die je nach Form und Größe des Geschirrs variieren. Rollen, kullern, poltern, zerbersten – die Diversität des Verhaltens des Materials verleiht den Objekten beinahe anthropomorphe Züge.

Eine Strategie, die in „Tank and me“ von Francesca Hyde ad adsurdum geführt wird. Im Zwiegespräch mit Tank, einem Wasserkanister, der ihr in der Disziplin Hair-Hanging als Counterweight dient, ist die Anthropomorphisierung der nicht-menschlichen Entität das zentrale Mittel des Stücks.

Die Nutzung der Natur als Aufführungsraum ist die Kernstrategie von Compagnien wie La Migration oder Barcode Circus Company. In ihren site-specific Performances wird die natürliche Umgebung (z.B. Wald, Meer) als inhärent performativ mit einbezogen. Natürliche Kräfte, wie z.B. Wind, werden als zentrales Mittel der Bedeutungskonstitution genutzt, anstatt negiert. Eben diese Strategie findet man häufig auch in digitalen Zirkusformaten und Fotografien10, wie beispielsweise in „Cirque Hors Piste“ (2016), „Un horizon vertical“ (2007), „Naturally“ (2015) und „The Quarry Project“ (2019).

Darüber hinaus bietet die Markierung von distributive agency mithilfe eines spezifischen Riggings, das den Fokus auf die während der Vertikaltuchakrobatik wirkenden Kräfte legt, in „Fractales“11 der Cie Libertivore die Möglichkeit einer nicht-anthropozentrischen Rezeption.

  1. Fazit. Zirkus als Wahrnehmungsapparatur

Trotz der Diversität der Inszenierungsstrategien eint die genannten Stücke eins: Sie fordern uns heraus, unser Denken auf Wesen, Dinge und Objekte, die zuvor als aktive Handlungsträger ignoriert wurden, auszuweiten und jede a priori ontologische Annahme menschlicher Überlegenheit zu verneinen. Damit ist aber nicht nur eine Entwicklung von einem anthropozentrischen zu einem neu-materialistischen Zirkus erkennbar, sondern auch ein Wandel im Selbstverständnis des Zirkus. Während der Traditionelle Zirkus die außergewöhnlichen Fähigkeiten und die Macht des Menschen – insbesondere zur Zeit der industriellen Revolution als Hochphase des Anthropozentrismus und des Zirkus – zelebrierte, liegt zeitgenössischen Zirkusstücken ein Selbstverständnis als kritische, politische Kunst zugrunde12. In diesem Zusammenhang wird der Zirkus (wie auch Theaterformen, die sich dem non-human turn widmen) als ein Mittel verstanden, mithilfe dessen sich verschiedene zukünftige Welten aufzeigen lassen13, um zu einem ökologischen Umdenken anzuregen. In diesem Verständnis fungiert der Zeitgenössische Zirkus in Anlehnung an Maaike Bleeker als Wahrnehmungsapparatur14, anhand derer eine Sensibilität für non-human agency und ein Wandel der Perspektive auf die Welt entwickelt werden kann. Zirkusstücke des non-human turn laden uns zu einem heuristischen Experiment ein, das nicht nur die Rezeption der Stücke selbst betrifft, sondern das Sehen von Aufführungen im Allgemeinen hinterfragt: Wie verändert sich unser Blick und zu welchen neuen Resultaten gelangen wir beim Betrachten von Aufführungen, wenn wir von einer agency der Objekte und Apparaturen ausgehen?15


1 Teile dieses Artikels wurden veröffentlicht in Trapp, Franziska: „(De)Center. Zum non-human turn im Zeitgenössischen Zirkus.“ In: THEWIS 2022.
https://www.theater-wissenschaft.de/thewis/.
2 Manning, Erin: „Artfulness“, in: Grusin, Richard A. (Hg): The nonhuman turn. Minneapolis 2015, S. 65.
3 Grusin, Richard A. (Hg.): The nonhuman turn. Minneapolis 2015.
4 Folkers, Andreas: „Was ist neu am neuen Materialismus? Von der Praxis zum Ereignis“. In: Goll, Tobias/ Keil, Daniel/Telios, Thomas (Hg.): Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus. Münster 2013. S. 17–35, S. 17.
5 Manning, E.: “Artfulness”.
6 Ebd., S. 65.
7 Dies gilt nicht nur für den Zirkus. Menschliche Handlungsfähigkeit, so argumentiert Bennett, basiert immer auf einem Netzwerk aus menschlichen und nicht-menschlichen Handlungsträgern: „There was never a time when human agency was anything other than an interfolding network of humanity and nonhumanity; today this mingling has become harder to ignore.“ Bennett, J.: Vibrant matter. A political ecology of things. Durham 2010, S. 31.
8 Vgl. Focquet, Vincent: Withdrawal to a Humble Circus. Three Careful Dramaturgical Tactics. Ghent 2019, S. 8.
9 Zur Ästhetik des Risikos vgl. Trapp, Franziska: Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus. Berlin 2020; Tait, Peta: „Risk, Danger and Other Paradoxes in Circus and Circus Oz Parody“. in: Tait, Peta/Lavers, Katie (Hg.): The Routledge Circus Studies Reader. New York, London 2016. S. 528–545.
10 Vgl. Lavers, Katie/ Leroux, Louis Patrick/ Burtt John (Hg.): Contemporary circus. Abingdon 2019, S. 9.
11 Für eine ausführliche Analyse siehe Trapp, Franziska: „From the Swiss Alpes to the Volcanic Beaches of the Canary Islands – Agencies in Site-Specific Circus Performances”, https://cccirque.hypotheses.org/579 (Zugriff am 27.1.2022)
12 Cie Libertivore: „Fractales“, https://www.libertivore.fr/fractales-1 (Zugriff am 27.1.2021).
13 Zur Differenz zwischen dem Traditionellen, Neuen und Zeitgenössischen Zirkus in diesem Hinblick vgl. Trapp, Franziska: Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus.
14 Vgl. Lavery, Carl: „Introduction: performance and ecology – what can theatre do?“. In: Green Letters 20 (2016) H. 3, S. 229–236, S. 233.
15 In Rückgriff auf Barad argumentiert Bleeker für ein Verständnis von Kunstwerken als Wahrnehmungsapparaturen (thought-apparatuses). Bleeker, Maaike: „Spectators called to Thought. Theatrical Performance as Thought Apparatus.” Public Lecture. Antwerp 2021 (= Visual Poetics Invites… Nonhuman Performativity: Theories, Practices, Methodologies).

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