Präsenz im Zeitgenössischen Zirkus
Ein Interview mit Prof. Tillmann Damrau, geführt von Jenny Patschovsky
Jenny Patschovsky (JP) In Ihrem Aufsatz „Bewegte Körper – Ostentative Physis“ schreiben Sie über den Zirkus als körperbasierte Kunstform und über die Höchstleistungen in der Zirkusartistik als Sinnbild der Produktionssteigerung durch die Industrialisierung. Sie zielen hier aber nicht auf das in dem Zusammenhang oft erwähnte anthropozentrische Weltbild ab, sondern beschreiben einen anderen Aspekt der Zirkusartistik.
Tillmann Damrau (TD) Die Darbietungen der Zirkusartistik werden oft als der Natur abgepresste Höchstleistungen beschrieben, die eine Verfügung über den Körper verwirklichen, welche besonders durch die Industrialisierung im neunzehnten Jahrhundert vorangetrieben wurde. Andererseits sind diese Leistungen auch zweckfrei, also gewissermaßen sinnlos. Sie erfüllen damit eigentlich genau das, was Kant von einem Kunstwerk fordert, nämlich, dass es zweckfrei ist und nicht irgendwelchen funktionellen Gesichtspunkten genügt.
JP Sie beziehen sich also auf den ersten Moment des reinen Tuns – und nicht auf das, was dann folgt, die Vermarktung und der Verkauf der Artistiknummern in einem Marktsystem.
TD Ich denke, dass diese Ambivalenz einfach da ist. Mit der ersten industriellen Revolution gab es diesen rasch zunehmenden technischen Zugriff auf die Welt und damit die Frage, wie wir uns über Maschinen ganz neue Möglichkeiten der Nutzung und Verwertung erschließen. Und auf der anderen Seite gibt es zum Beispiel im Zirkus dieses Moment von Luxus, von Verschwendung, dass jemand sagt: Ich mache etwas, wovon ich jetzt keinen unmittelbaren Gewinn habe, außer, dass ich das machen will und auch machen kann.
JP In Ihrem Aufsatz schreiben Sie auch, dass der Zirkus ein kulturell formierter Ort ist, mit einer eigenen Rhetorik, wo dem Körper eine besondere Kraft zugeschrieben wird, neue Erfahrungen zu generieren. Was meinen Sie damit genau?
TD Ich versuche das im Grunde von mehreren Punkten herzuleiten. Erstens aus Überlegungen von Roland Barthes, einem französischen Zeichentheoretiker, der diese Frage anhand von Filmen diskutiert hat – also von Details in Filmen, die nicht unmittelbar der Erzählung der Handlung dienen, aber für uns einen Realitätseffekt produzieren. Das heißt, sie unterstützen die Glaubhaftigkeit des Ganzen. Und er nimmt für diese Details einen sogenannten stumpfen Sinn an, einen Sinn, der sich gegen die Diskursivierung stumpf macht, also sperrt. Diese Details bleiben für eine Interpretation schwer zugänglich. Auf den Zirkus bezogen heißt das, der artistisch bewegte Körper „macht“ Sinn paradoxerweise genau da, wo er sich von Sinnzuschreibungen immer wieder freimacht. Ein anderer Punkt, von dem ich ausgehe, ist der Begriff der Präsenz. Im Zirkus gibt es viele Momente, die nicht in festen Kodierungen oder in einer bestimmten Erzählung aufgehen. Und da finde ich die Begriffe wie Präsenz, Emergenz, Epiphanie von Form, wie sie der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht benutzt, plausibel. Gumbrecht erklärt den Begriff der Präsenz auch mit Bezug auf den Sport und meint damit, dass im Sport, plötzlich während eines Spieles, frappierende Formen im Sinne von Körperhaltungen, Bewegungen und von Spielzügen auftauchen, die nicht in Handlungen, Sätze und diskursive Elemente zerlegt werden können, sondern uns momentan als Ganzes betreffen, in der Erfahrung unserer eigenen Gegenwärtigkeit. Gumbrecht spricht von der Emergenz von Präsenz, also dem Spürbarwerden einer besonderen Gegenwärtigkeit in der Eindringlichkeit unserer Wahrnehmung, die sich gleich wieder entzieht, eben weil sie flüchtig ist. Das ist eine ästhetische Erfahrung, von der er meint, diese sei ganz wesentlich für unsere heutige Kultur. Dabei sagt er nicht, nur das ist das eigentlich Interessante, sondern er sagt, es gibt die diskursiven Momente in Kunstwerken oder diversen anderen Präsentationsformen, die interessant sind und die ihre Berechtigung haben. Aber vieles sperrt sich eben gegen dieses Aufgehen in einem diskursiven Sinn und ein ganz wesentliches Moment davon ist dieses besondere Präsentwerden von Körperlichkeit, von Substanz, die uns in dieser Form dann begegnet.
JP Ich verstehe diese Präsenz als ein sehr intensives Erlebnis, das bei Artistik durch die starke Körperlichkeit und die Wirkungsweisen der Spiegelneuronen verstärkt wird. Das ist sozusagen eine körperliche Wahrnehmung, man spürt seinen eigenen Körper bei der Betrachtung.
TD Ja, das ist so. Die Wahrnehmung der anderen Körper korrespondiert immer mit dem eigenen Körpergefühl, dem Erleben des eigenen Körpers.
JP Ich wollte in dem Zusammenhang auf den non-human turn und die neue Performer-Objekt-Beziehung zu sprechen kommen, die den Zeitgenössischen Zirkus vermehrt charakterisiert. Inwiefern hat das Präsenzerlebnis im Zeitgenössischen Zirkus mit dem non-human turn, genauer mit der objektorientierten Ontologie zu tun?
TD Was die objektorientierte Ontologieii von Graham Harman ausmacht, ist, dass nicht mehr zwischen Objekten und Menschen unterschieden wird. Das heißt, auch Menschen sind Objekte. Der Effekt ist, dass es nicht mehr Objekte gibt und einen privilegierten Geist – also die Menschen, die sich auf diese Objekte beziehen, sie analysieren und dann zu irgendetwas benutzen. Sondern, dass ein eher ökologischer Austausch stattfindet zwischen unterschiedlichen Objekten und dass in dem Moment, wo ich mit einem Objekt in Kontakt trete, ich mit diesem Objekt zusammen ein neues Objekt bilde. Das spielt gerade für den Zeitgenössischen Zirkus eine große Rolle, weil es eben nicht nur um die virtuose Beherrschung von Objekten, Dingen, Gegenständen geht, sondern um einen explorativen Austausch damit. Wobei das Experimentieren durchaus ritualisierte Momente haben darf, sprich ein Experiment wiederholt wird, wie in einer Reihe von Nummern, die immer wieder aufgeführt werden, aber wo trotzdem jedes Mal die Konzentration, die Offenheit und auch die Spannung aufgebracht werden müssen, um genau das zu generieren, was Gumbrecht die Epiphanie von Form nennt. Und diese Präsenz, bei der dann plötzlich die Zuschauenden mit den Artist:innen zusammen ein Objekt bilden, was dann eine ganz neue Welterfahrung generiert, die eben nur in diesem ästhetischen Zusammenhang der Zirkusnummer möglich ist. Das ist es, was an diesem non-human turn befreiend ist. Dass wir als Menschen in der Welt sind, ein Teil der Welt sind, und dass zu uns auch unsere Körper gehören. Ein anderer Punkt von Graham Harman ist, dass es keine privilegierten Objekte mehr gibt. Es sind nicht nur die Artist:innen, welche mit einem Objekt arbeiten, das Objekt arbeitet auch mit den Artist:innen.
JP Ich habe den Eindruck, dass die agency, also die Handlungsfähigkeit von Objekten, gerade die Voraussetzung für ein Präsenz-Erlebnis ist. Wenn das Objekt etwas macht, was ich nicht vorhersehen und nicht kontrollieren kann, dann befinde ich mich in einem ständigen Experiment, einer Improvisation, und dann kann ein Präsenz-Erlebnis entstehen.
TD Ja, ich denke, das ist so. Die Möglichkeit der Antizipation ist dann erschöpft. Das ist ein wesentliches Moment, dass man sich auf die Situation einlassen muss.
JP Könnte man also sagen, dass diese Aufführungssituation, in der die Objekte und Requisiten agency haben und die aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit ein intensives Präsenzerlebnis hervorrufen kann, zu einem neuen Code, sprich einer neuen Rhetorik des Zeitgenössischen Zirkus wird?
TD Das könnte ich mir durchaus vorstellen, dass in dem Moment, wo sich Zirkus von den klassischen Rhetoriken befreit, neue Möglichkeiten der Inszenierung und der Präsentation entstehen und uns da unter dem Label Zirkus dann eine ganz neue Art von performativer Kunst begegnet.
JP In der Zirkuswissenschaft wird aktuell viel von Zirkus als Wahrnehmungsapparatur geschrieben. Ähnliche Ansätze gab es auch in der Kunstgeschichte. Sehen Sie da auch Überschneidungen?
TD Ich denke an die minimalistische Kunst der späten 50er und 60er Jahre mit Frank Stella, Donald Judd und anderen. Wie Frank Stella einmal in einem Interview mit „Artnews“ sagte: „What you see is what you see.“ Das kann man eine platte Tautologie nennen, aber worauf er hinauswollte, ist, dass diese Kunst eine allen Menschen zugängliche Erfahrung präsentieren sollte, in aller Simplizität, aber auch in aller Fülle. Also eine Erfahrung mit Objekten ermöglichen, die den Betrachtenden nichts vormachen, sondern eine solide Präsenz haben, der sie körperlich begegnen können und die zunächst nichts anderes sein will, als das, was sie ist. Die Betrachtenden müssen das Bild oder das Objekt nicht verstehen, sondern mit dem Bild oder Objekt umgehen, zum Beispiel auch, indem sie sich davor bewegen. Das bringt eine neue Erfahrung von Bildlichkeit und Raum. Und diese Erfahrung soll geschützt werden vor einer Reduktion gemäß dem europäischen Anliegen „Kunst muss Inhalt haben“. Frank Stella sagte sinngemäß in diesem Interview auch, das sei viel interessanter und viel zukunftsweisender und habe viel mehr mit dem Leben der Leute zu tun, als irgendwelche optischen Effekte neu zu arrangieren. Dazu wurde auch schon in der Performancekunst der 1960er Jahre mit dem eigenen Körper experimentiert – zum Beispiel von Rudolf Schwarzkogler, Valie Export, Marina Abramovic und Ulay oder Franz Erhard Walther mit seinen „Kleidern“, die nicht wirklich angezogen werden können, wo sich hineingestellt und hineingefunden werden muss – und die eben auch Objekte sind, mit denen Besucher:innen umgehen und die genauso mit ihnen umgehen.
JP Das heißt, diese Kunstwerke der Minimal oder Performance Art sind partizipativ und ein wie oben beschriebenes Präsenzerlebnis kann passieren – allerdings mit dem Unterschied, dass das Diskursive komplett ausgeklammert wird, ganz bewusst. Gumbrecht aber schließt das Diskursive trotzdem auch mit ein. Er sagt ja, es kann auch ein Hin- und Herschwingen geben, was, wie ich finde, eine interessante Kraft entwickelt.
TD Ich denke, ein reines Präsenzerlebnis ist gar nicht möglich. Denn es kommt immer die Frage nach der Zuordnung, der Einordnung auf. Allein in dem kulturellen Zusammenhang, worin dem Objekt, dem Kunstwerk, der Performance, der Zirkusnummer begegnet wird, stecken schon viele Codierungen drin, die zum Teil bewusst aufgerufen werden, zum Teil nicht. Deshalb betont Gumbrecht auch, dass diese Präsenz etwas Flüchtiges ist, ein Aufblitzen.
JP Glauben Sie, dass diese Art von Kunsterfahrung und diese Präsenzerlebnisse vor dem Hintergrund unserer aktuellen Herausforderungen im so genannten Anthropozän eine größere Rolle spielen als damals?
TD Das denke ich schon. Ich habe den Eindruck, dass das partizipative Moment, das sowohl empathisch als auch handlungsorientiert ist, in der Kunst eine größere Rolle spielt. Und auch der ökologische Aspekt, dass wir Menschen die Welt nicht nur für uns nutzbar machen, sondern dass wir ein Teil der Welt sind und schauen müssen, wie wir mit der Welt umgehen, während die Welt auch mit uns umgeht. Und ich habe den Eindruck, dass es jungen Künstler:innen aller Gattungen gerade weniger darum geht, Werke zu schaffen, als vielmehr Angebote zu machen, Momente der Reibung zu produzieren, die als Austausch und als Erfahrung im Umgang mit der Welt wahrgenommen werden können. Und insbesondere bei der Arbeit im Zeitgenössischen Zirkus findet das ja statt, weil wir hier bei der Entstehung des Kunstwerks live und in Präsenz dabei sind.