Überlegungen zur Ästhetik hybrider Kunstformen zwischen Tanz und Zirkus

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Überlegungen zur Ästhetik hybrider Kunstformen zwischen Tanz und Zirkus

Jean-Michel Guy

Hybride Ästhetiken, in denen sich Tanz und Zirkus vermischen, sind im französischsprachigen Raum nach wie vor wenig beschrieben und erforscht worden. Eine französische Kollegin, die sich intensiv damit beschäftigt, ist die Tänzerin und Forscherin Agathe Dumont. Ihre Texte sind ausgesprochen lesenswert, insbesondere „Interprètes au travail: danseurs et acrobates, de l’indiscipline à la désobéissance“. Sie nähert sich der Thematik vor allem mit Blick auf die verschiedenen Normen, denen die Körper von Tänzer*innen und Artist*innen unterliegen. Zwei weitere französische Kolleg*innen, Odile Cougoule und Marika Maymard, haben vor Kurzem für die digitale Enzyklopädie der Zirkuskünste der Französischen Nationalbibliothek und des Centre National des Arts du Cirque (CNAC) Textbeiträge verfasst, die sich der Beziehung zwischen Tanz und Zirkus im Verlauf der Geschichte widmen. Das 2017 vom Circostrada-Netzwerk organisierte Seminar „Where Dance meets Circus“ in Irland hat ebenfalls dazu beigetragen, das Bewusstsein für diese Hybridformen zu stärken. Meine eigene Herangehensweise an das Thema bezieht sich eher auf aktuelle Ästhetiken als auf historische Begebenheiten, auf die Arbeit im Proberaum und andere Begegnungsmöglichkeiten zwischen Tänzer*innen und Artist*innen. Sie bestätigt im Grunde die im Rahmen des Seminars gewonnenen Erkenntnisse, die ich lediglich etwas vertiefen werde. Dennoch hoffe ich natürlich, dass meine Ausführungen auch neue Fragen aufwerfen.

Zunächst ein paar Worte zu meinem persönlichen Zugriff auf die Thematik: Meine Perspektive ist zum einen die eines Franzosen, der die aktuellen Entwicklungen von Zirkus und Tanz in Europa neugierig verfolgt, aber weit davon entfernt ist, überschauen zu können, was sich außerhalb Frankreichs im hybriden Bereich zwischen Zirkus und Tanz alles tut. Zudem bin ich ein deutlich größerer Kenner des zeitgenössischen Zirkus als des zeitgenössischen Tanzes, auch wenn letzterer mir sehr vertraut ist und am Herzen liegt. Zudem betrachte ich Konzepte und Begrifflichkeiten verschiedener Disziplinen (Soziologie, Ästhetik, Semiologie usw.), die für gewöhnlich getrennt werden, zusammen, und ich habe dabei eine Vorliebe für eine dekonstruktivistische und politische Lesart der Dinge. Darüber hinaus ist es auch möglich, dass ich das Thema durch mir zum Teil unbewusste Filter sehe – etwa mein Alter, mein Geschlecht und andere soziokulturelle Faktoren, die meine Wahrnehmung beeinflussen, auch wenn ich versuchen werde, sie so gut wie möglich herauszuhalten. Und nicht zuletzt spreche ich natürlich auch ganz einfach als Zuschauer. Denn auch wenn ich als Dozent an Zirkusschulen im Bereich der kritischen Analyse nicht selten Stücke seziere, so bin ich mir doch immer auch der Rätselhaftigkeit und der Emotionen bewusst, die sie in mir und anderen auslösen.

DREI KATEGORIEN DER BEGEGNUNG

Zuerst möchte ich die verschiedenen Formen des Miteinanders von Zirkus und Tanz beschreiben. Lange Zeit war ihre Beziehung durch die künstlerische Entlehnung gekennzeichnet, also das gegenseitige Übernehmen bestimmter Elemente (auch wenn der Zirkus dem Tanz hier mehr verdankt als umgekehrt). Auch vom Theater, das historisch gesehen größere Legitimität besitzt, haben beide Genres Elemente übernommen. Ganz zu schweigen von ihrer Beziehung zur Musik, die sie noch immer sowohl eint, als auch trennt. Die Entlehnung ist bis heute ein Modus minimaler gegenseitiger Anerkennung, wenngleich drei neue Formen der Begegnung an Bedeutung gewonnen haben: die Osmose, die Friktion und die Transzendenz.

1. Osmose

Die erste Beziehungsart ist also die Osmose, die auch Symbiose oder noch einfacher Verschmelzung genannt werden könnte. Ich habe sie auch schon als „Mayonnaise“ bezeichnet, weil sich die einzelnen Bestandteile, Öl und Eier, aus dem einmal entstandenen Gemisch nicht wieder extrahieren lassen. Typische Formen dieses Beziehungstyps sind der akrobatische Tanz und die Tanzakrobatik. In dieselbe Kategorie können auch weitere Tanzformen mit hohem akrobatischem Anspruch eingeordnet werden, etwa der Lindy Hop, der im Zirkusstück Il n’est pas encore minuit der Kompanie XY eine wichtige Rolle spielt, oder der Hip Hop. Die Stücke des Franzosen Mourad Merzouki, Leiter der Compagnie Käfig und des Centre Chorégraphique National de Créteil, der übrigens auch erst eine Zirkusausbildung absolvierte, bevor er den Tanz für sich entdeckte, werden grundsätzlich dem Tanz zugeordnet. Doch die akrobatisch anspruchsvolle Leistung der Tänzer*innen verwischt die Grenzen völlig. Besonders deutlich wird das in seinen letzten drei Stücken: Pixel, Folia und Vertical. Die Arbeiten des belgischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui sind im Vergleich dazu weniger akrobatisch. Aber das Stück Sutra, das er mit Mönchen des Shaolin-Tempels erarbeitet hat, gilt es an dieser Stelle definitiv hervorzuheben. Darin verschmelzen zwar nicht Tanz und Zirkus, aber die Nähe von Zirkusakrobatik zu den Martial Arts, zu Capoeira und der Tradition der katalanischen Castells (ich könnte noch mehr aufzählen) ist meines Erachtens nicht von der Hand zu weisen.

Ein weiteres Beispiel für derartige Verschmelzungen sind Stücke, bei denen auf der Bühne zu relativ gleichen Teilen Tänzer*innen und Artist*innen zu sehen sind und nicht mehr erkenntlich ist, welche Akteur*innen welcher Disziplin angehören. Wie etwa in Parallèle 26: eine Kollaboration zwischen dem Zirkusschaffenden Guy Carrara und der Choreografin Sylvie Guillermin, die je vier Performer*innen aus Tanz und Zirkus in einem aus chinesischen Masten bestehenden Käfig vereint.

Es gibt eine weitere Form der Osmose, die ich getanzten Zirkus (cirque dansé) nenne. Dabei handelt es sich oft um Stücke, die von Artist*innen geschrieben und umgesetzt werden, die vom Tanz vorwiegend das wissen, was sie an den Zirkusschulen gelernt und erfahren haben. Getanzter Zirkus wird dabei unmittelbar mit beiden Genres in Verbindung gebracht: mit dem Zirkus, weil darin Objekte und Geräte zum Einsatz kommen und mit dem Tanz aufgrund des Flusses, der Anmut oder der Eleganz der Bewegungen. Nahezu alle Jonglage-Stücke von Jérôme Thomas fallen in diese Kategorie. Weitere Beispiele sind die Arbeiten von Marie-Anne Michel, Jean-Baptiste André, Fanny Soriano, Chloé Moglia, Mélissa von Vépy, Mathieu Desseigne-Ravel, Marion Collé, Cyrille Musy, Andres Labarca, Jur Domingo und Julien Vittecoq von der Cridacompany… die Liste ließe sich nahezu beliebig lange fortführen. Es fallen, kurz gesagt, sehr viele Zirkuskünstler*innen in diese Kategorie.

Genauer gesagt wählen besagte Künstler*innen, ebenso wie ihr Publikum, sehr häufig das Genre Tanz für die Verortung ihrer Stücke. Marie-Anne Michel etwa spricht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit am chinesischen Mast von vertikalem Tanz, Mélissa von Vépy und Breno Caetano bezeichnen ihre Kreationen, die direkt oder indirekt vom Trapez oder Vertikalseil inspiriert sind, als danse aérienne, also als Vertikaltanz. Und die Equilibrist*innen auf dem Drahtseil nennen sich ohnehin Seiltänzer*innen.

2. Friktion

Der zweite Typus ist die Friktion und entspräche, um bei meiner kulinarischen Metapher zu bleiben, in etwa einem Fruchtsalat, bei dem die typische Eigenart der einzelnen Zutaten erhalten bleibt, in der Vermischung aber ein neues Geschmackserlebnis entsteht. Die reinste Form einer solchen Melange ist die simple Juxtaposition von Tanz und Zirkus. Zwei typische Beispiele dafür wären Tangram von Stefan Sing und 4x4 von Sean Gandini, die beide Tanz und Jonglage zusammenbringen. Der grundlegende Zweck solcher Vermengungen besteht in der gegenseitigen Befruchtung: Der Zirkus erscheint dadurch getanzter, als er eigentlich ist, und der Tanz virtuoser.

Am häufigsten zeigt sich das Konzept der Friktion in Form des choreografierten Zirkus. Unter dieser Bezeichnung verstehe ich eine besondere Art der Kollaboration zwischen Zirkusperformer*innen und einer/-m Choreograf*in, der/die für das Werk verantwortlich zeichnet.

Zugleich möchte ich jedoch auf einen bedeutsamen Unterschied hinweisen: Artist*innen haben nicht nur Tanzunterricht – klassischen sowie zeitgenössischen – während ihrer Ausbildung an der Zirkusschule. Sie arbeiten auch oft unter der Leitung von Choreograf*innen, während der umgekehrte Fall äußerst selten ist. So werden beispielsweise die Abschlussarbeiten am CNAC häufig von Choreograf*innen inszeniert. Meines Wissens nach kam es bislang umgekehrt aber noch nie dazu, dass Autor*innen oder Regisseur*innen aus dem Zirkusbereich ein Stück mit Absolvent*innen einer Tanzausbildung entwickelt haben.

In diese Kategorie fallen die Stücke unter der Regie von Philippe Decouflé, Fatou Traoré, Héla Fatoumi und Eric Lamoureux, Francesca Lattuada oder Denis Plassard für und mit den Studierenden des CNAC, die diesem mittlerweile bekannten Beziehungstypus den Weg geebnet haben.

3. Transzendenz

Der dritte Begegnungstypus, den ich Transzendenz genannt habe, bezeichnet die Überwindung der Genrebegriffe Tanz und Zirkus zugunsten einer neuen Kategorie oder ihrer Aufhebung. Vertreter dieses Typs sind die Stücke von Kitsou Dubois, Yoann Bourgeois, Phia Ménard, Aurélien Bory… Künstler*innen, die sich ebenso als Choreograf*innen wie auch als Zirkusschaffende präsentieren, sich bewusst der einen wie der anderen Zuordnung entziehen und es tendenziell bevorzugen, dass ihre Arbeiten als Physical Theatre verstanden werden – oder eben in gar keine Schublade passen.

Zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs folgt ein kleiner Einblick in die Arbeit von Kitsou Dubois und Phia Ménard:

Kitsou Dubois ist ohne jeden Zweifel eine Choreografin. Sie hat sogar eine Doktorarbeit zum Thema Tanz in der Schwerelosigkeit geschrieben. Dazu bat sie mehrere Tänzer*innen und Artist*innen, sich mit ihr gemeinsam Bewegungen unter veränderten Schwerkraftverhältnissen auszusetzen: zunächst im Schwimmbad und anschließend an Bord eines Flugzeugs im Parabelflug. Nachdem Kitsou Dubois und ihre Begleiter*innen – darunter der Jongleur Jörg Müller, die Trapezkünstlerin Chloé Moglia, der Trampolin-Artist Mathurin Bolze und die Tänzerin Laura de Nercy – wieder gelandet waren, versuchten sie immer und immer wieder, das überwältigende Erlebnis der Schwerelosigkeit auf festem Boden nachzuempfinden und neu zu erschaffen. In den Stücken, die so entstanden sind, sorgen mehrschichtige Klangteppiche und Videoprojektionen dafür, dass die Zuschauer*innen ihr gewohntes Raum-Zeit-Gefühl verlieren, während die extrem verlangsamten Bewegungen der Performer*innen die Kategorien Tanz und Zirkus zu Gunsten einer viel grundlegenderen, propiozeptiven Auffassung des Zentrums und der Kontur von Körpern transzendieren. Statt diese Inszenierungen als choreografisch oder zirzensisch zu qualifizieren, möchte ich sie viel lieber als kosmische oder gar psychische Arbeiten bezeichnen, denn in Anlehnung an Freuds frühe Arbeiten und Didier Anzieus These des Haut-Ich definiert Kitsou Dubois die Psyche als Steuereinheit des Zentrums und der Konturen. Was eine solche Entdeckung für die Jonglage bedeutet, zeigt sich spätestens beim Betrachten der Inszenierung Mobile von Jörg Müller. Man weiß sofort, dass dieses Stück den Künstler überdauern wird, so visionär und zugleich aus der Zeit gefallen ist es. Es lehrt uns insbesondere, dass Jonglage eben keine Sache des Falls und des Fallens ist.

Phia Ménard definiert sich als Transgender. Auch ihre Stücke überschreiten binäre Kategorien, denn es ist unmöglich, sie eindeutig dem Zirkus oder dem Tanz zuzuordnen. Phia Ménard hat die Jonglage revolutioniert, und zwar nicht durch Choreografien – das hat bereits Francis Brunn in den 1950er Jahren getan –, sondern durch eine radikale Dekonstruktion der Jonglage. Dabei hinterfragt sie auch den Tanz anhand zirzensischer Attribute wie Beharrlichkeit, Kraft und Gleichgewicht. Ihr Stück Vortex würde kein*e Zuschauer*in spontan als Jonglage bezeichnen. Dennoch jongliert sie darin mit schier unglaublicher Expertise und höchster Virtuosität unsichtbare Luftströme, indem sie die Ausrichtung, Intensität und Anzahl der insgesamt etwa 20 im Kreis aufgestellten Ventilatoren verändert. In Maison-mère orchestriert sie den Bau eines Pappkarton-Hauses und dessen Zerstörung (ja, so schlicht lässt sich dieses Meisterwerk tatsächlich zusammenfassen), doch mobilisiert sie dabei „Körperzustände“, die sowohl choreografisch als auch dem Zirkus zugehörig – kurzum: transzendent – sind.

EINIGE GEMEINSAME BERÜHRUNGSPUNKTE

Nach dieser kurzen Typologie der Beziehungen zwischen Tanz und Zirkus komme ich nun – wenn auch wieder nur skizzenhaft – zur Frage der gemeinsamen Berührungspunkte. Natürlich teilen sie zunächst einmal die vieldeutigen Begriffe „Bewegung“, „Körper“ und „Bühnenraum“. Weiterhin ist ihnen, wenn auch auf abstraktere Weise, ein Verständnis von Theatralität, Körperlichkeit und Musikalität gemein. Zu guter Letzt besitzen sie schlicht und ergreifend eine gemeinsame Anschauung vom Menschen und der Welt, die sie hin und wieder veranlasst, miteinander zu kollaborieren.

Ein Wort zur Theatralität. Eines der offensichtlichsten Merkmale, in dem sich Artist*innen und Tänzer*innen voneinander unterscheiden, ist ihre Beziehung zur Höhe und zum Objekt. Damit verbunden unterscheidet sich auch ihr Verhältnis zum Fall(en) – von Körpern und Gegenständen –, das im Zirkus auch als Verfall erlebt werden kann. Tänzer*innen fallen gern, zerlegen das Fallen in seine Bestandteile, ahmen die Bewegung so natürlich oder stilisiert wie möglich nach und wissen, wie man fällt, ohne sich zu verletzen. Artist*innen hingegen verletzen sich aufgrund ungewollter Stürze regelmäßig und liegen mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden. Der Unterschied ist moralischer Natur. Bitten Sie Artist*innen nie „so zu tun, als ob“. Sie empfinden die Vorstellung, etwas zu simulieren, als unehrenhaft – als etwas, das mit hoher Wahrscheinlichkeit bei den Zuschauer*innen Zweifel daran aufkommen lässt, ob das eingegangene Risiko real ist. In der Idee der Authentizität auf der Bühne oder, allgemeiner formuliert, in der Beziehung zum Publikum liegen zahlreiche Ambivalenzen zwischen Tanz und Zirkus begründet.

Die Mehrheit der Hybridformen wird jedoch nach wie vor von einem Begriff aus der Musik bestimmt: Phrasierung beziehungsweise, profaner ausgedrückt, Fluidität. Wie oft sorgt sie für Missverständnisse! Tänzer*innen neigen dazu, sie zu verwerfen, weil sie dem Tanz mitunter zu schnell das Prädikat „schön“ verleiht, während Artist*innen nach ihr streben, weil sie nicht per se mit ihr vertraut sind.

Im Bereich des Zirkus ist man geradezu besessen von der Vorstellung, jeglichen Vorbereitungsmoment zu kaschieren, das heißt über die Lücke hinwegzutäuschen, die kurz vor der Ausführung einer Figur entsteht. Bereits die Begriffe „Figur“ und „Figurenabfolge“ machen jedes Zirkusstück zu einem mosaikartigen Ganzen aus technischen Bewegungen und Pausen, das Artist*innen dazu verpflichtet, mithilfe unzähliger dramaturgischer Tricks die entstehenden Brüche zu verbergen. Das gleiche Problem besteht in ähnlicher Weise auch bei der grundlegenden Frage, wie Übergänge zwischen Nummern zu gestalten sind.

Das Stück Möbius des Kollektivs XY findet eine meisterliche Lösung im Umgang mit diesen Fragen und ist so gesehen ein echter Meilenstein: Die von Vogel- und Fischschwärmen inspirierte Arbeit wurde von 19 Artist*innen und dem Choreografen Rachid Ouramdane von vornherein kollektiv konzipiert. Die sich ständig verändernden und überlappenden Bewegungen lassen bei den Zuschauer*innen die Wahrnehmung von „Anfang“ und „Ende“ verschwinden. Zugleich werden die einzelnen zirzensischen Figuren Teil der Bewegungssequenzen, anstatt diese zu unterbrechen: Die Akrobat*innen erwecken nicht den Eindruck, sich im Raum zu positionieren, sondern sind vielmehr permanent in Bewegung.

Was Tänzer*innen und Artist*innen heute aber jenseits aller technischen Fragen dazu motiviert zusammenzuarbeiten, sind bestimmte gemeinsame Grundüberzeugungen. Beide Gruppen beschäftigen sich mit vier drängenden gesellschaftlichen Problematiken: Das sind erstens die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Anerkennung einer Diversität jenseits der binären Geschlechternormen, zweitens die existenzbedrohenden Gefahren nach der Atombombe, d.h. globale Erderwärmung und Hyperkapitalismus, drittens die Darstellung des Intimen und viertens die Suche nach einer neuen Urbanität. Jeder dieser vier Punkte hätte es verdient, genauer ausgeführt zu werden, ich möchte hier jedoch nur auf zwei von ihnen kurz näher eingehen.

Intimität. Vor einigen Jahren erschien in Frankreich unter dem Titel Panorama de la danse contemporaine ein umfangreicher Band, der die Arbeit von 100 Choreograf*innen vorstellte. Auf die Frage nach dem A und O ihrer Recherchen gaben sie einstimmig zur Antwort: Intimität. Die Arbeiten, die dieser gemeinsamen Inspiration entspringen, sind freilich äußerst verschieden und variieren von autobiografischen Kreationen bis hin zu Untersuchungen zur Sinnesempfindung oder gar zu einzelnen Muskelgruppen und Körperpartien.

Dabei war der Begriff „Intimität“ für Zirkusschaffende vor gar nicht allzu langer Zeit noch ein Fremdwort. Ich würde sogar so weit gehen, den neuerlichen Einzug des Intimen in Zirkusstücke sogar als bedeutsamen Entwicklungsschritt für den Zirkus insgesamt zu bezeichnen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Pionierarbeiten Phia Ménards hervorzuheben, die ohne Umschweife ihr Coming-out und die Realität ihrer Geschlechtsumwandlung thematisieren, aber auch das Stück Nos limites von Mathias Pilet und Alexandre Fournier oder TU von Mathias Pilet, das dezidiert autobiografisch ist. In einem allgemeineren Sinne steht auch in den Stücken Chloé Moglias, Marie-Anne Michels, Alexandre Frays und zahlreicher Seilakrobat*innen die intime Erforschung des Sensiblen an erster Stelle.

Ein weiterer Schlüsselbegriff ist „Dringlichkeit“. Seit den (ohnehin akrobatischen) Stücken eines Wim Vandekeybus oder eines Alain Platels, also schon ziemlich lange, zeigen Tänzer*innen demonstrativ – bis hin zum erschöpften Abgang von der Bühne –, was der klassische Tanz immer zu verbergen versucht hat: die körperliche Verausgabung und die Realität des Schmerzes. Zur gleichen Zeit drängte es Zirkusartist*innen dazu, den umgekehrten Weg zu gehen und zu versuchen, Gefahr, Angst und Schwindelgefühl von der Bühne zu verbannen, weil diese zu stark mit dem traditionellen Zirkus assoziiert wurden. Die beiden Sinuskurven treffen sich heute, als Zeichen einer neuen gemeinsamen Dringlichkeit: Zahlreiche choreografische und zirzensische Stücke durchzieht ein Hauch von Kataklysmus und Extrem.

Zirkusschaffende stellen wieder vermehrt körperliche Anstrengungen zur Schau, und manche richten sogar den Fokus ihres Spiels erneut auf die Angst, beispielsweise die ihrem Namen alle Ehre machende Kompanie In extremis oder die finnische Race Horse Company. Und auch die Themen Kollaps und Zusammenbruch sind mittlerweile für Artist*innen eine selbstverständliche Quelle der Inspiration. Das zeigt etwa das neueste Stück der Kompanie Baro d’Ével mit dem Titel Falaise. Darin werden, kurz gesagt, besondere Stammestänze vollführt, die, wie es scheint, das einzig probate Mittel sind, um die Risse eines sozialen Gefüges zu kitten, das der Egoismus zunehmend zersetzt. Ich habe weiter oben bereits Maison-mère von Phia Ménard genannt und dabei ganz vergessen zu erwähnen, dass es auch ein apokalyptisches Stück ist. Auch Grande- von Vimala Pons und Tsirihaka Harrivel muss in diesem Zusammenhang genannt werden. In dem Stück kollabiert auf der Bühne der Sinn des großen Ganzen unter der Last zu vieler Informationen, zu vieler Nöte oder schlicht einem „Zuviel von allem“.

Zum Abschluss

Ich verwende für die Beschreibung der zentralen Merkmale des Zirkus der letzten 15 Jahre den Begriff „Zirkuszentrismus“ (circocentrisme). Damit meine ich die Tendenz, eine „Verwässerung“ des Zirkus durch andere Künste – seien es Tanz, Theater oder Musik – so weit wie möglich zu meiden. Lange Zeit, von 1968 bis 2000, hat der Zirkus, sicherlich auch um an Legitimität zu gewinnen, freizügig Elemente aus Theater und Tanz entlehnt, ja sogar die Verschmelzung der Künste gelobt. Durch die erlangte Anerkennung kann sich der Zirkus nun wieder auf seine ihm eigenen Probleme und Prinzipien zurückbesinnen. Nicht etwa, um eine mögliche, verloren geglaubte Essenz wiederzufinden, sondern um seinen ureigenen Erfindungsreichtum neu zu beleben. Dieser Herausforderung stellt er sich gegenwärtig. Im Gegensatz dazu, so scheint mir, hat sich der Tanz äußeren Einflüssen gegenüber sehr stark geöffnet, um sich erneut zu hinterfragen, auch wenn seine Neugier gegenüber dem zeitgenössischen Zirkus bislang recht verhalten ist.

Vor uns könnte also der Beginn einer neuen Etappe liegen, die einen neuartigen Dialog zwischen den Künsten ermöglicht. Einen Dialog, der a priori auf Respekt beruht, auf der Berücksichtigung der Belange des anderen und nicht mehr allein auf dem Bild, das man voneinander hat. Das mag einfach klingen, ist aber sehr schwer umzusetzen, trotz all der wunderbaren Beispiele für Kollaborationen, die ich genannt habe. Und dieses Unterfangen kann auch nur durch konkretes Handeln gelingen, etwa durch systematischen Austausch zwischen Tanz- und Zirkushochschulen (aber auch Theater-, Film- und Musikhochschulen), sowie spartenübergreifend kuratierte Programme wie das CircusDanceFestival in Köln, das weltweit absolut einzigartig ist und hoffentlich auch andernorts zu Entwicklungen dieser Art inspiriert.


Paris, 1. März 2020


Dieser Text wurde in französischer Sprache von Jean-Michel Guy, anlässlich der allerersten Festivalausgabe des CircusDanceFestival, verfasst. Er umfasste ursprünglich zwanzig Seiten. Für die Erstveröffentlichung sowie die Übersetzung ins Deutsche wurde er auf die vorliegende Fassung gekürzt.

Übersetzung aus dem Französischen: Anna Ochs

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