So etwas wie Null Risiko gibt es nicht

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So etwas wie Null Risiko gibt es nicht

Im Gespräch mit Rémi Lecocq von der Kompanie Cirque Inextremiste

Ein Interview von Valentina Barone

Rémi Lecocq bezeichnet sich selbst als „Handwerker der Bühnenkünste“. Sein Training beginnt im Alter von sechs Jahren in einer französischen Amateur-Zirkusschule, in der die Älteren die Jüngeren unterrichten. Eine Generation lernt von der anderen. In diesem Umfeld wird schnell klar, was professionelle Zirkusperformer:innen sind: Unverzichtbare Individuen in einem Gemeinschaftswerk, bei dem die Arbeit hinter der Bühne den gleichen Stellenwert hat wie die Performance auf der Bühne. Später studiert Rémi Lecocq an der École Nationale de Cirque in Châtellerault (ENCC) und an der Académie Fratellini. Dort hat er mit 21 Jahren einen Unfall, der ihn von der Hüfte abwärts lähmt. Er entscheidet, seine Identität als Akrobat erneut zu bekräftigen und erkundet im Zeichen des Zirkus und des performativen Risikos die Möglichkeiten, die ihm seine veränderte physische Beweglichkeit bietet. 2010 gründet er zusammen mit Yann Ecauvre und Sylvain Briani-Colin den Cirque Inextremiste. Mehr als zehn Jahre geht die Kompanie mit ihrer Produktion Extrêmités (2011) auf Tour, die mittlerweile ein Klassiker des zeitgenössischen Zirkus ist. Mit pietätloser Ironie und angsteinflößender Virtuosität performt Rémi Lecocq als akrobatischer Träger im Rollstuhl. In Zusammenarbeit mit Cirque Inextremiste entsteht 2014 auch das Stück Extension, in dem er auf der Bühne einen Bagger steuert und damit die beiden anderen Akrobaten bewegt. Damit erfüllt sich Rémi als Fan von Baumaschinen einen Kindheitstraum und nimmt - mit Hilfe seiner dadurch erworbenen Hypermobilität - zugleich ironisch „Rache“ an seinen Bühnenpartnern, die ihn im Vorgängerstück ordentlich traktiert haben. Er selbst sagt: „Behinderung oder nicht, Zirkus ist eine Leidenschaft, die du in dir trägst.“ Deshalb bat ich Rémi, uns für diese Ausgabe von VOICES etwas mehr über seinen künstlerischen Weg und sein Leben auf und hinter der Bühne zu erzählen.

Seit du 21 bist, kannst du deine Beine nicht mehr bewegen. Wie hat der Unfall dein Leben verändert?

Wir waren jung, und die Schule hat uns viel abverlangt. Nach den ersten zehn Monaten, es war im Juni, war ich irgendwie sauer auf einen Lehrer. Also hab ich was Dummes gemacht: Ich habe eine komplizierte akrobatische Abfolge zusammengestellt, die ihn nur überfordern konnte, und dann kam auch schon der Hubschrauber und brachte mich in mein neues Leben. Ich war während des Sturzes völlig präsent. Mir wurde in dem Moment bewusst, dass ich das Jahr zuvor schon vier Mal davon geträumt hatte, körperlich gelähmt zu sein. Im Grunde war ich in den Sekunden des Fallens wenig schockiert – als wäre ich schon darauf vorbereitet. Ich dachte nur: „Und jetzt? Dann bin ich eben ein Akrobat, der mit den Armen arbeitet. Egal, ich werde immer Akrobat bleiben.“ Das war völlig klar. Kompliziert wurde es erst später, als die Menschen um mich herum das anders sahen.

Warst du dir deiner körperlichen Verfassung bewusst, während dein Umfeld die Situation noch nicht richtig verstand?

Es war auch für mich nicht leicht, zu sagen: „Halb so wild, alles geht weiter.“ Hätte ich mit der Akademie weitermachen können, hätte ich das vielleicht durchgezogen und heute einen Abschluss in der Tasche. Wer weiß. Ich habe damals erstmal mit allem aufgehört und andere Sachen gemacht, vor allem Musik und Videos. Aber irgendwas fehlte, und das war die Akrobatik.

Wie hast du deinen Zugang zur Akrobatik wiedergefunden, und wie hat sich deine körperliche Awareness mit der Zeit verändert?

Ich habe damals für ein Kunstprojekt an mehreren Residenzen teilgenommen, und in jedem Workshop experimentierte ich mit neuen Möglichkeiten herum. Eigentlich wollte ich nur eins: Auf der Bühne nicht im Rollstuhl sitzen. Ich hab alles ausprobiert, um das zu umgehen: Kontorsionen am Boden, ein Skateboard mit beweglichen Rädern, aus dem Schneidersitz heraus Mobilität finden… Dann hatte ich einen Albtraum. Ich wurde darin in den Müll geworfen, ein Teil nach dem anderen. Da dachte ich: „Warum steckst du dich nicht selbst in eine Tonne?“ So kam ich auf die Idee mit dem 80-Liter-Plastiktrog. Er war von der Größe her genau richtig und verlagerte das Zentrum der Schwerkraft nach unten. Man kann damit gut rotieren, ähnlich wie bei Breakdance-Figuren. Als ich das erste Mal drin war, hab ich mich zwei Mal gedreht und Krack! Das Ding zersprang in tausend Teile. Da dachte ich: „Wow, das ist genial! So fühlt sich das also an, wenn so eine Plastiktonne um dich herum platzt.“ Sie wurde schnell mein Lieblingsgerät, ich hab sie sogar ein bisschen dekoriert. In Extension stecken sie mich wie zur Bestrafung hinein. In einem Moment der Gefahr, in dem das Gleichgewicht zu kippen droht. Ich befreie mich dann daraus, als wäre ich nicht in meinem Element. Ich benutze die Tonne als etwas, das mich einschränkt.

Wie hat dein Abenteuer mit Cirque Inextremiste begonnen?

Yann Ecauvre wusste von meinem Unfall und wollte mich damals schon kontaktieren. Er spielte zu der Zeit sein Solostück Inextremiste. Yann war für mich eine Kreuzung aus Straßenkünstler und Cartoon-Charakter, ein Trampolinterrorist, der mit Gaskanistern herumspielte und riskante, abwegige Dinge tat. Und irgendwann machten wir beide dann denselben Workshop. Bei der Abschlusspräsentation waren wir zufällig alle drei zusammen: Yann, Basko (Sylvain Briani-Colin) und ich. Wir sind vom Typ her eher stille Akrobaten, die nicht viel reden, aber die Chemie zwischen uns war magisch. Nachdem wir die ersten 15 Minuten gezeigt hatten, wollten wir unbedingt weiter daran arbeiten, und so entstand Extrêmités. Nach der ersten Aufführung konnte uns nichts mehr bremsen. Wir haben so viele Festivals wie möglich mitgenommen, um die finale Version zu entwickeln. Das erste Jahr war besonders episch, weil wir nur draußen gespielt haben, auf allen möglichen Untergründen, bei Wind und Wetter. Damals haben wir uns um Risikominimierung nicht geschert, wir haben einfach gemacht.

Wie haben die Veranstalter:innen am Anfang reagiert, hatten sie Angst euch einzuladen?

Wir sind etwas zahmer nach zehn Jahren Tour, aber wenn wir drinnen spielen, haben sie manchmal Angst, dass der Boden Schaden nimmt. Aber insgeheim wissen sie, dass das schon alles hinhaut. Das Stück läuft mittlerweile glatt, aber am Anfang war es, wenn ich ehrlich bin, wirklich zum Fürchten. Viele dachten: „Das ist Wahnsinn, die machen die verrücktesten Sachen, gehen feiern und stehen am nächsten Tag wieder auf der Bühne. Die legen es auf Angst und Gefahr an.“ Aber genau deshalb war es auch gut. Diese Fragilität lag spürbar in der Luft. Unser Ruf war damals eher schlecht. Und bis heute berühren wir die tiefsten Ängste der Zuschauer:innen, weil unsere Balanceakte spannungsgeladen sind. Wir erzeugen eine elektrisierende Stimmung, eine Mischung aus Freude und emotionaler Achterbahn.

Wie würdest du deine Herangehensweise an die darstellerische Präsenz auf der Bühne beschreiben?

Die Reaktionen und das Zusammenspiel zwischen uns sind so vielfältig. Heute sind wir zwar selbstbewusster, aber Angst vor dem Sturz haben wir trotzdem. Wir erarbeiten keine perfekten Abläufe, eher mögliche Lösungen. Bei uns auf der Bühne ist alles sehr echt und direkt. Ich persönlich erzwinge Komik nicht, ich bleibe einfach offen für das, was geschieht. Ich habe schon mit 6 Jahren vor 1400 Leuten performt. Ich halte eine gewisse Distanz zum Publikum, bleibe aber aufmerksam. Ich bin mir bewusst, dass sie mir zusehen, und ich weiß, wann sie lachen.

Deine Figur in Extension erinnert mich an eine Art Supermenschen. Wie beeinflusst das Steuern der Maschine deine Wahrnehmung der Akrobatik?

Als Kind habe ich immer davon geträumt, in einem Kran zu sitzen und per Knopfdruck tonnenschwere Sachen zu bewegen. Aber eigentlich kam die Idee, einen kleinen Bagger einzusetzen, von Yann. Er wollte ihn mit einem Koreanischen Schleuderbrett kombinieren. Als Basis besteht meine Aufgabe ja darin, sehr aufmerksam auf den Akrobaten, der fliegt zu achten, denn er kommuniziert über Blicke, ob es ein Problem gibt oder nicht. In Extension ist die Kommunikation nicht so direkt, die Maschine steht zwischen uns. Ich habe gelernt, selbst kleinste Bewegungen mit ihr gut zu kontrollieren, aber es ist eine andere Verbindungsebene. Als ich zum ersten Mal im Bagger saß, wollte ich gar nicht mehr absteigen, so verrückte Balanceakte haben wir gemacht. Die Ironie in beiden Stücken ist sehr ähnlich, genau wie unsere drei Figuren: Das Arschloch, der Bösewicht und das Opfer, das kein Opfer mehr ist. In der Balance sucht Basko immer die instabilste Position, und Yann gleicht das aus. Er ist jemand, der Kontrolle sucht.

Ist dem Publikum bewusst, wie anspruchsvoll und gefährlich manche Parts sind, die ihr zeigt?

Ich erinnere mich, in den ersten Jahren von Extrêmités ist es öfter passiert, dass Leute während des Stücks raus mussten, weil sie die Anspannung nicht aushielten. Andere wiederum sind geblieben und waren hinterher froh, ihre Angst überwunden zu haben. Jetzt sind einige Jahre vergangen, aber im Grunde ist das bis heute unsere Bühnensprache. Auch wenn wir etwas milder geworden sind. Heute sind deutlich weniger Zuschauer:innen schockiert. In Extension ist vielen aber, glaube ich, nicht bewusst, wie gefährlich es ist. Insbesondere nicht, wenn wir Freiwillige auf die Bühne holen. Es ist schon vorgekommen, dass jemand auf die Bühne lief und überhaupt nicht gemerkt hat, wie gefährlich das in dem Moment für ihn selbst, für uns und für andere Freiwillige auf der Bühne war. Aber wir versuchen natürlich, problematische Situationen zu meiden und für Sicherheit zu sorgen. Wir sagen uns, dass die Zuschauer:innen sich der Gefahr bewusst sind. Aber wie Angst eben funktioniert - man legt die Rationalität ab, wenn man uns zuschaut.

Das Stück ist eigentlich ständig auf Tour. Wie lief die Zusammenarbeit mit den Akrobat:innen, die deine Zweitbesetzung sind?

Früher war ich fast immer unterwegs, heute sieht mein Zeitplan etwas entspannter aus. Ich öffne mich für neue Erfahrungen. Ich habe drei Kinder. Anfangs bin ich noch mit der ganzen Familie durch Europa gereist. Aber Flugzeugreisen sind anstrengend für mich. Dazu hab ich mich nur durchgerungen, als wir in China und Hong Kong gespielt haben. Grundsätzlich ist es kein Problem, jemand anderem die Techniken und Abläufe beizubringen. Das lässt sich alles vermitteln, aber die Bühnenpräsenz muss man mitbringen. Bei Extrêmités arbeiten wir unter anderem mit Karim Randé zusammen, einem außergewöhnlichen Akrobaten, der bei einem Unfall einen Teil seines Beines verloren hat. Karim kann in dem Stück zwei Parts ersetzen: Meinen und Baskos.

Hast du den Eindruck, dass sich die Wahrnehmung körperlicher Einschränkungen verändert hat, seit du bei Inextremiste dabei bist?

Es hat schon immer aufmerksame Menschen auf und hinter der Bühne gegeben, die auf die technischen Aspekte der Barrierefreiheit geachtet haben, genau wie es das genaue Gegenteil immer gab. Heute haben Theater öfter Rampen, ganz generell wird bewusster damit umgegangen. Aber wir haben nie eine Show ausfallen lassen, wenn ein Theater nicht barrierefrei war. Manchmal haben wir die Verantwortlichen damit auch etwas schockiert. Aber hey, das ist mein Körper, ich kontrolliere ihn und ich nehme ihn überall hin mit. Der Rollstuhl macht einige Menschen nervös. Als hätten sie das Gefühl, es würde Unglück bringen, ihn zu berühren oder etwas mit ihm zu tun zu haben. Solche Reaktionen gibt es überall, ob unter Kolleg:innen oder Zuschauer:innen. Manche Eltern schimpfen sogar mit ihren Kindern, wenn sie mit meinem Rollstuhl spielen, dabei mögen Kinder ihn total. Sie testen ihn aus. Er ist wie ein großes Skateboard, man kann sich stundenlang damit beschäftigen und Stunts machen. Meine Kinder beherrschen den Rollstuhl und haben viel Spaß damit.

Welche Themen und Herausforderungen – ob innerhalb der Welt der darstellenden Kunst oder darüber hinaus – beschäftigen dich heute?

Als ich früher auf Tour ging, war die Frage der Nachhaltigkeit für mich noch nicht so wichtig. Wir sind überall hingereist, die Tour war, was zählte. Wir wollten unsere Show so vielen Menschen wie möglich nahebringen. Jetzt, im Alter von 41 Jahren, spielt Qualität eine größere Rolle, genauso wie bewusster Konsum. In Extension brauchen wir beispielsweise Kraftstoff für den Bagger. Heute ist das Thema Umwelt und Nachhaltigkeit extrem wichtig für mich. Ich achte sehr darauf und pflanze jetzt Bäume.

Übersetzt von Anna Ochs


Hier geht es zu den Trailern der Performances von Extension und Extrêmités.

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