Editorial VOICES IV

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Liebe Leser:innen, liebe Künstler:innen, liebes Publikum,

wenn Zirkus wahrhaft “zeitgenössisch” sein will, muss er dann nicht (über) die Gesellschaften reflektieren, in denen er sich entwickelt?1

Es steht immer noch ein „Elefant im Raum“, wenn wir heute über Zirkus sprechen: Die koloniale Vergangenheit des Zirkus, die aktuell kaum aufgearbeitet ist. Sie wird vielmehr von zahlreichen romantisierten Zirkusbildern überlagert und viel zu selten klar benannt. Was bedeutet es, in Anbetracht dieser Historie, heute zeitgenössische Formen von Zirkus zu kreieren, zu zeigen, zu vermitteln, zu lehren oder zu inszenieren? Was sagen uns die „Gespenster der Vergangenheit“? - wie sie Ante Ursić in dieser Ausgabe benennt. Es sind diese ausbeuterischen Ungerechtigkeiten an so vielen Menschen (wie Tieren), die mit dem Zirkus und seiner Geschichte des Exzeptionalismus verbunden sind. Es sind Gespenster, die uns heute auf bestehende rassistische und diskriminierende Strukturen hinweisen können. Sie können uns sensibilisieren für stereotype Vereinfachungen und normative Ästhetiken die sich auch in zeitgenössische Zirkuspraktiken eingeschrieben haben. Und sie können dazu beitragen, unsere heutigen Arbeitsstrukturen kritisch zu reflektieren und gerechter zu gestalten. Um all dem näher zu kommen braucht es eine kollektive Gedächtnisarbeit zum Zirkus als kulturhistorisches, soziales, ästhetisches, und zeitgenössisches Phänomen.

Die diesjährige VOICES Ausgabe Re-exploring the grotesque beschäftigt sich mit dem Begriff des Grotesken und legt ihn als Folie über den Zirkus. Die versammelten Texte fragen aus kulturtheoretischer, theater- und zirkuswissenschaftlicher, dekolonialer, queer-feministischer und künstlerischer Perspektive. Es sind Reflektionen darüber, was uns das Groteske in seiner Vielschichtigkeit und mit seinen Ambivalenzen heute in Bezug auf die Diversität von Körpern, Körperbildern und Zirkus- und Tanzpraktiken sagen kann.

Der Ursprung des Grotesken lässt sich auf ungewöhnliche Ornamentformen der antiken Wandmalerei, die in der italienischen Renaissance aufgegriffen wurden, zurückverfolgen. Bereits hier zeigt sich die Heterogenität in Formen, bei denen Tier- und Menschenfiguren, pflanzliche Motive sowie Gestaltungselemente schlingend ineinander übergehen. Umgangssprachlich häufig mit dem Bizarren, Phantasievollen oder dem Unbeschreibbaren assoziiert, sind die Erscheinungsformen des Grotesken stets an Kontext und Zeitgeist gebunden und befinden sich daher in steter Transformation. Die historischen künstlerischen Spielarten sind vielfältig und ziehen sich bis ins Komische, Dämonische und Karnevaleske. Als Kern des Grotesken lässt sich am Treffendsten sein Verhältnis zu bestehenden Ordnungen und Grenzen beschreiben, die es „überschreitet, sprengt, untergräbt, verwischt“2 und sich so fixen Deutungen entzieht. So bietet die Beschäftigung mit dem Grotesken einen Rahmen für analytische und zugleich praxisbezogene Perspektiven auf Körpernormen und die Ikonographie von Kulturmustern.

In seinem einleitenden Artikel Eine Freak-Hantologie spürt Ante Ursić Analogien und Unterschieden zwischen den Begriffen Freak, Queer und Grotesk auf. Mit Blick auf die ausbeuterische Vergangenheit des Zirkus, beschreibt er, wie Freak-Performances der Aufrechterhaltung normativer und konservativer Werte der amerikanischen Gesellschaft dienten. Ausgehend von Derridas Gedanken darüber, wie man mit den Gespenstern der Vergangenheit leben kann, erinnert uns Ursić an die politische Dimension der Erinnerung und des Erbes. Als Musterungen des Unabgeschlossenen beschreibt Susanne Foellmer einen wesentlichen Stil zeitgenössischer Ästhetik, der sich im Tanz manifestiert. Unter Bezugnahme auf Theorien des Grotesken von Michail M. Bachtins und Wolfgang Kayser untersucht sie Ästhetiken, die den menschlichen Körper in seine skulpturalen Einzelteile dekonstruiert und ihn als metamorphes Material hinterfragt. Das Interview von Franziska Trapp mit dem flämischen Zirkusmacher und Choreografen Alexander Vantournhout diskutiert die spezifische Performance Through the Grapevine und Betrachtungsweisen individueller Körperproportionen. John-Paul Zaccarini teilt seine persönlichen Erfahrungen und Ansichten in Form eines Memoires über queere und afro-pessimistische Zirkusfantasien, die ihren künstlerischen Raum im FutureBrownSpace finden – einem intersektionalen Forschungsprojekt an der DOCH University of the Arts in Stockholm. Es schafft einen kreativen Raum für Künstler:innen of Colour in überwiegend weißen Institutionen, ohne den Druck des ,weißen Blicks’. Konsequenterweise ist sein Artikel mit einer dort entstandenen künstlerischen Videoarbeit kombiniert, die wir sehr empfehlen, vor dem Lesen anzuschauen. Das Interview von Valentina Barone mit Rémi Lecocq dreht sich um seine persönlichen Erfahrungen als Zirkusartist und seine akrobatische Berufung jenseits von Behinderung. Elena Zanzu taucht ein in die Tiefen der künstlerischen Praxen, welche die Performance EZ prägen. Live zu sehen beim diesjährigen CircusDanceFestival lassen uns Zanzu's nicht-binäre Erforschungen existenzielle Entscheidungen aus nächster Nähe betrachten.

Wir wünschen eine intensive Lektüre. Zum Gedankenaustausch laden wir sehr herzlich ein zum Diskussionsprogramm des CircusDanceFestivals in Köln, welches Raum bietet für weiterführende Gespräche und persönliche Begegnungen.

Tim Behren & Valentina Barone
Köln, März 2023

1 Willkie, Angélique: Von der Gefahr einseitiger Erzählung (im Zirkus) / The danger of a single story (in circus). In: Behren, Tim / Patschovsky, Jenny (Hg): Circus in flux – Zeitgenössischer Zirkus. Verlag Theater der Zeit: Berlin 2022.
2 Hollein, Max / Dercon, Chris: Vorwort. In: Kort, Pamela (Hg): Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit. Prestel Verlag: München, Berlin, London, New York 2003.

Daniel Firman, Würsa 18.000 km from earth, 2006–2008, elephant taxidermy, 570 x 250 x 140 cm. Photo: Courtesy of CHOI&CHOI Gallery and the artist. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

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