Von der Gefahr einseitiger Erzählung (im Zirkus)

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Von der Gefahr einseitiger Erzählung (im Zirkus)

Angélique Willkie

2009 hielt die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie einen TED-Talk mit dem Titel "The danger of a single story". Sie sagt darin, dass unsere Leben und Kulturen aus vielen, sich überschneidenden Geschichten bestehen, und dass diese Vielfalt der Erzählungen bei ihr selbst entscheidend dazu beitrug, ihre eigene Stimme zu finden. Vor allem aber warnt sie davor, dass uns schwere Missverständnisse drohen, wenn wir nur eine einzelne Geschichte über andere Menschen, ein anderes Land oder auch uns selbst hören. In Adichies Worten: „Die eine einzige Geschichte lässt Stereotype entstehen, und das Problem mit Stereotypen ist nicht, dass sie unwahr sind, sondern, dass sie unvollständig sind. Durch sie wird aus einer einzelnen Geschichte die einzige Geschichte.”

Ich möchte diesen Gedanken übernehmen und ihn auf den zeitgenössischen Zirkus als Disziplin und Praxis übertragen. Inwiefern erliegen wir auch im Zirkus der Gefahr der einseitigen Erzählung, und welchem entscheidenden Missverständnis sind wir Praktiker*innen und Denker*innen des Zirkus ausgesetzt?

Trotz des historisch gewachsenen Mythos von der individuellen Freiheit im Zirkus, die in hohem Maße für die Artist*innen und auch für das Publikum seinen Reiz ausmacht, ist die Realität des zeitgenössischen Zirkus größtenteils immer noch an ein Training und eine Ästhetik gekoppelt, die weit davon entfernt ist, das Individuum hervorzuheben. Indem Zirkus die Vielfalt der sich durchdringenden Geschichten, die ein Individuum ausmachen, zu großen Teilen ignoriert, hat auch er Stereotype erschaffen - Adichie zufolge keine unwahren Bilder, aber eben unvollständige – und damit auch Referenzen, die ausgrenzen.

Zirkus blickt auf eine Geschichte des “Exzeptionalismus” zurück. Sie reicht von der Zurschaustellung körperlicher und sozialer Formen von Marginalität im 19. Jahrhundert bis zur heutigen Ästhetik, die eine normative Virtuosität hervorhebt, welche die Abwesenheit des Individuums zum Maßstab macht. Die Normierung von “Idealen” im Hinblick auf den Körper und seine Möglichkeiten führt zu einem Begriff von “Neutralität”, der sich an das koloniale (Miss)Verständnis anlehnt, es gäbe ein universelles Erleben, eine Ästhetik, eine einzige Geschichte. Wie fordern wir diese Wertesysteme in der ererbten Ästhetik der Zirkuspraxis heraus? Wie fordern wir die Stereotype heraus, die eine einseitige Erzählung mit sich bringt?

Im Mittelpunkt der Zirkuspraxis steht der Körper der Artist*innen. Performance-Forscher Ronald J. Pelias bezeichnet den Körper der Performer*innen als “politischen Körper”. Er untersucht, auf welche Weise die individuelle Beziehung der Darsteller*innen zur Welt – geprägt durch Gender, sexuelle Orientierung, Ableness, Herkunft, Klasse usw. – ihren Körper zu einem Ort widerstreitender Kräfte macht, sowohl von Seiten der Regie, die ihn “einsetzt”, als auch in der Wahrnehmung des Publikums (Pelias, 2008). So ein politischer Körper ist per Definition weder eine neutrale, weiße Leinwand noch eine losgelöste, einzelne Geschichte. Gerade dadurch, dass wir die Körper in ihrer ungeordneten Beziehungskomplexität wahrnehmen, kann sich ihr volles Potential als kreatives Werkzeug und soziale Kommentarstimme erst manifestieren.

Was ich als den relationalen Körper (relational body) der Performer*innen sehe, spiegelt deren Besonderheit wider und enthält alle individuellen, vielfältigen und sich überschneidenden Geschichten als aktiven Ausgangspunkt für die Kreation.

Wir leben in einer zutiefst diversen und ineinander verwobenen Welt. Zunehmend werden westliche Gesellschaften dazu aufgefordert, ihre koloniale Vergangenheit und die dazugehörigen Hinterlassenschaften zu hinterfragen, die sich weiterhin all denjenigen aufdrängen, die nicht den modernistischen Idealen entsprechen, die den rassistischen Kapitalismus genährt haben und ihn weiterhin nähren.

„Zeitgenössische“ Kunst sollte die Kunst von heute bezeichnen – unabhängig von Stil und kulturellem Ursprung. Der Begriff des Zeitgenössischen in der Kunst (wie elitär er auch immer sein mag!) legt den Blick durch eine kritische Brille nahe: auf die Kunst selbst, aber auch auf die Einflüsse, die zur Entstehung des Kunstwerks geführt haben, einschließlich des soziopolitischen Klimas, der Ausbildung des*der Künstler*in, kultureller Einflüsse usw. Wenn Zirkus wahrhaft „zeitgenössisch“ sein will, muss er dann nicht (über) die Gesellschaften reflektieren, in denen er sich entwickelt? Wie hinterfragen wir die Ästhetik der normativen Virtuosität, die technisches Können hervorhebt, aber nicht die individuelle Alchemie, die dieses Können ermöglicht und vielleicht sogar gerade die besondere Wirkkraft dieses Könnens ausmacht?

Es liegt mir fern, Individualität in ihrem neoliberalen Ethos hervorzuheben. Ich hoffe viel mehr, dass Zirkuskreationen für die Vielfalt und die Komplexität stehen, aus der jedes Individuum besteht. Wir alle, ob einzeln oder zusammen, sind nuanciert, ungreifbar, in steter Veränderung, voller Unsicherheiten und eher bestimmt von Fragen als von Antworten. Diese Realität bietet kaum Platz für Stereotype, die eine Geschichte von vielen zur einzigen Geschichte machen.

Angélique Willkie

Montreal, 17. März 2021


Zitierte Werke:

Adichie, Chimamanda Ngozi (2009). https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_single_story/transcript

Pelias, Ronald J. (2008). “Performative Inquiry: Embodiment and Its Challenges”. In J. Gary Knowles & Ardra L. Cole (eds.) Handbook of the Arts in Qualitative Research: Perspectives, Methodologies, Examples, and Issues NY: SAGE Publications

Exzeptionalismus: Sonderrolle, Ausnahme(erscheinung). Der Begriff des Exzeptionalismus bezeichnet ursprünglich eine nationalistische Ideologie der USA, die auf dem Postulat basiert, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eine Sonderstellung gegenüber allen anderen Nationen einnehmen. Hier wird der Begriff im übertragenen Sinne verwendet.

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