Zeitgenössisch aber Zirkus
Jenny Patschovsky
Meine Faszination und Begeisterung für den Zirkus haben vermutlich mit meiner eigenen Geschichte zu tun. Ich bin aufgewachsen in einer Landkommune in Italien und konnte meine ersten Lebensjahre in einem außergewöhnlichen und sehr freien Umfeld verbringen, in dem Mut, Gemeinschaftssinn und Selbstausdruck wesentliche gelebte Werte bildeten. Zurück in Deutschland habe ich als Jugendliche Zirkus in Form einer Jungendzirkusschule kennenlernen dürfen – als einen Ort, an dem man innerhalb des normierten Gesellschaftssystems frei und anders sein kann. Dass über die besondere künstlerische Praxis des Zirkus auch eine außergewöhnliche Lebenspraxis zum Ausdruck kommt, habe ich seitdem immer wieder beobachtet.
Meine Perspektive auf Zirkus wurde später stark beeinflusst von meinem Studium der Kunstgeschichte und der Musikwissenschaft. Innerhalb meiner Schwerpunkte Zeitgenössische Kunst, Performance Art und Musiktheater des 21. Jahrhunderts habe ich immer auch nach Bezügen und Vergleichsmomenten mit dem Zirkus, das heißt mit allen mir bekannten Zirkusformen gesucht, um das Spezifische von Zirkus, das ich als einzigartig erlebt habe, herauszustellen, sichtbar zu machen und um darüber zu einer Legitimation für den Zirkus als Kunstform zu gelangen. Sehr bereichernd war dabei für mich die Auseinandersetzung mit der künstlerischen Avantgarde, mit den Kunstströmungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier gibt es zahlreiche Schnittstellen zum Zirkus – im Futurismus, Dadaismus, Surrealismus und beim Bauhaus finden sich ganz unterschiedliche Bezüge zum Zirkus, der als nicht-elitär, unterhaltend, antiakademisch, nah an Publikum und Alltag verstanden wurde. Das Bauhaus bzw. einige Bauhauskünstler*innen haben sich sehr intensiv mit dem Zirkus beschäftigt und dabei nicht nur auf die soziale Stellung (am Rande der Gesellschaft) und den damit verbunden (gesellschaftlichen und künstlerischen) Freiheiten abgezielt, sondern auch bestimmte ästhetische Merkmale des Zirkus untersucht und in ihre Arbeiten, v.a. in die der Bühnenwerkstatt, integriert (z.B. das Interdisziplinäre, die körperliche Präzision, die Interaktionen mit Objekten, der Einsatz von Licht, die Bühnenform etc.).
Für meine eigene künstlerische Arbeit haben mir die Bezüge Bauhaus-Zirkus interessante Impulse geliefert, die zugleich widerspiegeln, was aktuell von vielen Zirkuskünstler*innen untersucht und hinterfragt wird. Dazu zählt der im Bauhaus praktizierte gleichberechtigte Einsatz aller Bühnenmittel, der dem Aufführungsraum, den Objekten/Requisiten und der*dem Performer*in eine für den Zirkus neue Stellung zuschreibt. Das Konzept zu einer subjektlosen Bühnenkunst, bei der*die Performer*in nur ein Gestaltungselement innerhalb des Gesamtkunstwerks darstellt, wurde von Moholy-Nagy 1925 in seinem Manifest "Theater, Zirkus, Varieté" beschrieben. Im Zirkus von heute wird es v.a. in der Objektmanipulation und dabei in den Ansätzen des so genannten „Neuen Materialismus“ weitergeführt.
Über die Schnittstellen von Bauhaus und Zirkus findet sich auch die Möglichkeit, dem Zirkus einen Status in der Nähe von Hoher Kunst zu verorten - wieder ein Weg in Richtung Legitimation des Zirkus als "ernste" Kunstform. Ein anderer Weg ist, Zirkusstücke nach klassischen kunstwissenschaftlichen Analysemethoden, d.h. dem Verhältnis von Form, Inhalt und Kontext zu untersuchen und zu fragen, wo die Momente von Bedeutungsgenerierung stattfinden und um welche Art von - relevanten - Bedeutungen es sich handelt. Dabei funktionieren Werkzeuge und Betrachtungsweisen der Kunstwissenschaft auch für bestimmte Zirkusstücke - des Zeitgenössischen Zirkus. Für andere Zirkusformen, die wir der Abgrenzung halber gerne als „traditionell“ bezeichnen, funktionieren diese Analysemethoden angeblich nicht, da hier das Verhältnis von Inhalt und Form keine besonders erhellenden Ergebnisse liefert. Über die soziologischen Untersuchungen, wie sie Paul Bouissac mit seiner Sammlung von Zirkus-Codes schon in den 1970ern vorschlug, kommt man dem Spezifischen dieser Aufführungen viel näher und gibt der Frage des Kontexts einen größeren Raum.
In Abgrenzung zum „alten“, „traditionellen“ Zirkus behaupten wir, die Verfechter*innen und Verbreiter*innen des Zeitgenössischen Zirkus gern, der traditionelle Zirkus liefere keine relevanten Themen, rege zu keiner tieferen Auseinandersetzung an, sei nicht politisch – Kriterien, die erfüllt sein müssten, um eine „hohe“ Kunst zu sein und die aus einem Denken in ausschließlich theatralen und literarischen, textbasierten Bezügen resultieren, die nicht-literarische und körperbasierte Darstellungsformen außenvorlässt. Streng genommen müsste man aber anerkennen, dass es sich auch dabei um frei gesetzte Normen handelt, die nicht allgemeingültig sind, einem Zeitgeist unterliegen und interessensgeleitet sein können.
Was also, wenn eine "traditionelle" Zirkusaufführung ebenso zu Diskursen der Gesellschaft über sich selbst anregt, gerade über den Einsatz der ihr eigenen - als überholt bezeichneten - Bedeutungen und Kontexte?
Meiner Meinung nach sollten wir dazu übergehen, jeder Zirkusform ihre eigene Berechtigung zuzusprechen und anerkennen, dass jede ihre eigene, spezifische Art hat, Bedeutung und Relevanz zu erzeugen. Der Zirkus - egal, welcher Art - lebt von der echten Begegnung von Körpern. Die im Zirkus real existierende Gefahr bzw. das hohe Maß an Realität, das in den Körperaktionen steckt, erzeugt ein unmittelbares Gefühl bei Zuschauer*innen, die körperliche Spannung wird auf das Publikum übertragen. So werden der sprachlichen Erfassung vorgelagerte Bedeutungen transportiert, die sich eher in einem Wissensgefühl manifestieren.
Bei allen Entwicklungen, die der Zirkus in Deutschland nun macht und noch machen wird sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass ihn - trotz aller Normierungen, denen auch er sich unterworfen sieht – eine besondere Aura der Freiheit umgibt und dass Zirkus das Potential hat, diese nicht nur zu postulieren, sondern auch zu leben.