Zeitgenössischer Zirkus: Ursprünge und aktuelle Entwicklungen
Tim Behren, Mirjam Hildbrand und Jenny Patschovsky
Zeitgenössischer Zirkus ist eine darstellende Kunst, deren Anfänge im Frankreich der 1970er Jahre festgeschrieben werden. Im Fahrwasser der 68er Bewegung suchten Theaterschaffende nach neuen Formen und Inhalten jenseits der etablierten Institutionen und den damit verbundenen Konventionen. Junge Kreative, die selber nicht aus Zirkusfamilien – sogenannten Zirkus-Dynastien – stammten, begannen an der Schnittstelle von Zirkus und Theater zu experimentieren, auch mit der Idee, eine breit zugängliche Theaterform zu entwickeln. Ihre Arbeiten wurden als „Nouveau Cirque“ bezeichnet – ein Begriff, der auch einen Bruch mit dem klassischen Wanderzirkus als Familienunternehmen mit Zirkuszelt, Manege und wilden Tieren beschreibt.
Im Laufe der der 1980er Jahre wurden in Europa und Kanada erstmals staatlich anerkannte Zirkus-Hochschulen gegründet, wie u.a. das CNAC (Centre National des Arts du Cirque) in Frankreich, die ESAC (Ecole supérieure des arts du cirque) in Belgien und die ENC (Ecole nationale de cirque) in Kanada.
Im Zusammenhang mit der Inszenierung von "Le Cri du caméléon" (dt. Der Schrei des Chamäleons), die der Choreograf Josef Nadj mit einer Abschlussklasse des CNAC im Jahr 1995 erarbeitete, etablierte sich der Begriff „Zeitgenössischer Zirkus“. Diese begriffliche Verschiebung von „Nouveau Cirque“ hin zu „Cirque Contemporain“ verweist auf einen Generationenwechsel wie auch auf einen ästhetischen Wandel innerhalb des Feldes. Beide Entwicklungen können in den 1990er Jahren verortet werden. Die Arbeiten einer neuen Generation von Zirkusschaffenden lösten sich immer mehr von narrativen Dramaturgien und überschritten zunehmend die Grenzen zu anderen Kunstformen. Der Zeitgenössische Zirkus steht daher im Besonderen auch für eine Verbindung mit anderen Künsten wie Theater, Tanz, Performance Art sowie den Medienkünsten. Gleichzeitig formierten sich auch immer mehr Ensembles, die auf einer Disziplin basierende – sogenannte monodisziplinäre - Performances entwickelten, wie beispielsweise die französische Compagnie XY mit Partnerakrobatik oder die englische Jonglage-Gruppe Gandini Juggling. In Deutschland ansässige Ensembles, die entsprechend eingeordnet werden können, sind die von einem Partnerakrobatik-Duo gegründete Kompanie Overhead Project sowie das rund um Objektmanipulation arbeitende Kollektiv Critical Mess.
Seit etwa zehn Jahren erfährt der Zeitgenössische Zirkus auch in Deutschland zunehmend Resonanz. Dabei werden die Begriffe „Neuer“ und „Zeitgenössischer Zirkus“ häufig synonym verwendet, da die Entwicklungen hier nicht stringent verlaufen und erst seit wenigen Jahren breiter diskutiert werden.
Mit der Gründung des Bundesverbandes Zeitgenössischer Zirkus e.V. (BUZZ) 2011 in Köln (zu der Zeit noch Initiative Neuer Zirkus e.V.) wurde die Sichtbarkeit des Zeitgenössischen Zirkus und die Anerkennung auf politischer Ebene stark vorangetrieben. Gleichzeitig entstehen immer mehr Spartenfestivals, die sich auf zeitgenössische Zirkus-Formen fokussieren - beispielsweise das ATOLL Festival in Karlsruhe, das Berlin Circus Festival oder das CircusDanceFestival in Köln. Andere Kulturinstitutionen wie die Berliner Festspiele, die Ruhrfestspiele Recklinghausen oder das Festival PERSPECTIVES in Saarbrücken haben die Sparte eingeführt oder ausgebaut. An der Universität Münster wurde der Zeitgenössische Zirkus zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und es wächst die Zahl an großen deutschen Zirkus-Eigenproduktionen. Seit 2018 gibt es außerdem ein eigenes Förderprogramm speziell für Produktionen aus dem Bereich namens Zirkus ON, das initiiert vom BUZZ zusammen mit derzeit 16 deutschen Partnerinstitutionen jährlich drei ausgewählten Projekten mit Residenzen, Mentoring und Präsentationsmöglichkeiten fördert.
Der Zeitgenössische Zirkus ist auf dem besten Weg, sich auch in Deutschland als eigenständige Kunstform zu etablieren.