Zirkus – Begriffe, Wertvorstellungen und eine große Liebe

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Zirkus – Begriffe, Wertvorstellungen und eine große Liebe

Mirjam Hildbrand

Neuer Zirkus oder Zeitgenössischer Zirkus oder…?

Im Fachdiskurs wird „Nouveau Cirque“ vor allem für Zirkusproduktionen verwendet, die im Zeitraum der 1970er bis 1990er Jahre entstanden sind. Die Produktionen ab den späten 1990er Jahren werden tendenziell als zeitgenössischer Zirkus (cirque contemporain) bezeichnet. Diese begriffliche Verschiebung verweist auf einen Generationenwechsel wie auch auf einen ästhetischen Wandel innerhalb des Feldes, die beide Ende der 1990er Jahre verortet werden können. Und beide, der neue wie auch der zeitgenössische Zirkus, werden implizit oder explizit in Abgrenzung zum sogenannten traditionellen oder klassischen Zirkus gedacht.

Im französisch- wie auch im englischsprachigen Raum ist heute vielfach nur noch von „Zirkus“ oder von den „Zirkuskünsten“ die Rede und Zusatzbeschreibungen wie „neu“ oder „zeitgenössisch“ entfallen zunehmend. Vielfach sind dort auch Debatten über die Gattungsbezeichnungen „Tanz“, „Theater“ und „Zirkus“ anzutreffen, da diese oft nicht mehr der viel breiteren Praxis der Künstler*innen entsprechen. Da das Adjektiv „zeitgenössisch“ für Produktionen der späten 1990er und der 2000er Jahre verwendet wird, ist es heute schon einigermaßen veraltet. Die starke Abgrenzung gegenüber dem traditionellen Zirkus scheint mir aus verschiedenen Gründen problematisch: Ohne den traditionellen Zirkus als Referenzpunkt sowie ohne die Praxis der Generationen von Zirkuskünstler*innen vor uns wären wir nicht da, wo wir heute sind. Zu einem weiteren Grund komme ich noch. Ich persönlich bevorzuge es daher schlicht und einfach von Zirkus oder bei Bedarf von aktuellen Zirkusformen zu sprechen. Der Plural verweist außerdem auf die vielfältigen künstlerischen Ansätze und Ästhetiken, die diesen Bereich des Kulturschaffens prägen.

Zirkus, (k)eine Kunst – aber Inspiration?!

Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte (inzwischen je nach Region bereits seit einem halben Jahrhundert), hat der Zirkus vor allem in französisch- und englischsprachigen Ländern Anerkennung als eine förderungswürdige, performative Kunstform gefunden. Im Vergleich dazu sind im deutschsprachigen Raum die Zirkuskünste bis heute vielfach von der Kulturförderung ausgeschlossen oder gelten nur regional und erst seit wenigen Jahren als förderungswürdig.

Nicht nur in Frankreich, sondern auch im deutschsprachigen Raum etablierte sich in den 1970er und 1980er Jahren das freie Theaterschaffen in Bezug zum Zirkus. Auf der Suche nach neuen Formen des Kunstschaffens, des Aufführens, des Arbeitens, des Kommunizierens mit dem Publikum und auch auf der Suche nach neuen, zugänglich(er)en Aufführungsorten jenseits der traditionellen bürgerlichen Kulturinstitutionen, interessierte sich die Bewegung für den Zirkus. Wie bereits bei den historischen Avantgarden in den 1910er und 1920er Jahren, also ebenfalls in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und ästhetischer Neuorientierung, dienten dabei die Zirkuskünste als Bezugspunkt und Inspirationsquelle. Doch im Zuge der Aufwertung und Institutionalisierung des freien Theaterschaffens in den 1980er und 1990er Jahren wurde der Zirkus im deutschsprachigen Raum wiederum ausgegrenzt oder zumindest nicht miteingeschlossen.

Um die Förderung von Zirkusproduktionen auch hier zu legitimieren, wird eine Abgrenzung von dem als nicht-förderungswürdig bewerteten, traditionellen Zirkus vorgenommen. Dies entspricht einem alten Muster: Um 1900 haben die Vertreter*innen des Bildungs- und Literaturtheaters im Kampf um staatliche und städtische Förderung versucht, ihre eigene Kunstform durch diskursive und politische Diskreditierung des Zirkus als Nicht-Theater und Nicht-Kunst aufzuwerten – letztlich erfolgreich. Bei den Bemühungen um die Legitimierung ihrer Praxis als Kunstform schreiben sich die aktuellen Vertreter*innen der freien Zirkusschaffenden in diesen, auf einem tradierten Kunstverständnis basierenden Aufwertungsdiskurs ein und werten damit gleichzeitig – bewusst oder unbewusst – die traditionelle Zirkuspraxis ab. Dies ist aus pragmatischen wie auch aus existenziellen Gründen verständlich: Die Zirkuskünstler*innen ringen innerhalb der aktuellen Strukturen und der bestehenden kulturpolitischen Praxis um eine gleichwertige Anerkennung für ihre Arbeiten, genau wie die Tanz- und Theaterschaffenden. Aus meiner Perspektive wäre es allerdings interessant und wichtig, die Förderpraxis insgesamt zu hinterfragen: Auf welchem Verständnis von Kunst und Kultur und welchen Wertvorstellungen basiert sie eigentlich? Und entspricht sie noch unserer Gesellschaft? Welche Visionen und Anliegen für das Kulturschaffen der kommenden Jahre sollte die Förderpraxis wiederspiegeln?

Zirkus – eine große Liebe

Die Zirkuskünste und aktuellen Zirkusformen faszinieren mich zum einen aufgrund ihrer vielseitigen Möglichkeiten, Ansätze und Ergebnisse und zum anderen aufgrund der breiten Zugänglichkeit vieler künstlerischer Arbeiten dieses Bereichs der darstellenden Künste. Als Zuschauerin passiert es mir häufig, dass ich im Publikum unterschiedliche Menschen – häufig mit auffallenden Altersunterschieden – beobachte, die an verschiedenen Momenten der Aufführung reagieren. Im Verlauf der letzten Jahre habe ich viele Zirkusarbeiten gesehen, die philosophische Themen oder Fragen über das menschliche Dasein verhandeln und gleichzeitig zutiefst sinnlich erfahrbar sind. Auch ohne Interesse an oder Verständnis für die tiefgründigeren Ebenen waren diese Aufführungen für die anwesenden Zuschauer*innen ein Erlebnis, vielleicht sogar ein prägendes Erlebnis. In einer Vorstellung, in der ein Pianist und ein Trampolin-Akrobat gemeinsam auf der Bühne waren, hatte ich als Zuschauerin plötzlich den Eindruck, dass ich dieses Springen mit der Musik nicht nur sehe und höre, sondern körperlich wahrnehme. Eine beeindruckende sinnliche Erfahrung, die ich nicht vergessen werde. Aber auch die gemeinsame Anwesenheit in einem Raum mit anderen Zuschauer*innen während der Dauer einer Aufführung macht diese sinnliche Erfahrbarkeit aus. Wir, Künstler*innen und Zuschauer*innen, brauchen uns gegenseitig. Ist die eine oder die andere Seite abwesend, kommt dieses ganz besondere Knistern nicht zustande. Die Künstler*innen teilen die Fragilität des eigenen Tuns, des Zusammenspiels, des Körpers und des menschlichen Seins mit dem Publikum. Als Zuschauerin wiederum muss ich voll und ganz da sein, mich auf die Künstler*innen einlassen. Manchen Zirkusarbeiten gelingt es, meine Realität zu erweitern und (ganz feine) Grenzen zu überschreiten, sodass ich vielseitig bewegt und anders aus einer Aufführung gehe als ich hereingegangen bin. Ich kann kaum benennen wie viel ärmer ich ohne diese Erfahrungen wäre. …eine große Liebe eben.

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