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40 Fragen… Wege zu einer Dramaturgie des Zeitgenössischen Zirkus
Franziska Trapp
Im Jahr 1996 prophezeit die Pariser Zeitung Libération eine dritte Ära des Zirkus: den Zeitgenössischen Zirkus. Die Prognose wird Realität; nicht nur in Frankreich, sondern auch international erobert das Genre die Kunst- und Kulturszene und gerät zunehmend in den Fokus der Forschung.
In ihrem Buch Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus entwickelt Dr. Franziska Trapp, Post-Doc an der Universität Münster, der Université Libre de Bruxelles und der Freien Universität Berlin, erstmals in Rückgriff auf die Lektüretheorien der Literatur-, Theater-, und Tanzwissenschaft eine Methodik zur Analyse von zeitgenössischen Zirkusdarbietungen. 40 Fragen begleiteten sie dabei auf den Wegen zu einer Dramaturgie des Zeitgenössischen Zirkus.
Was sind die Merkmale des Zeitgenössischen Zirkus?
Wie lassen sich Aufführungen des Zeitgenössischen Zirkus adäquat analysieren? Welche Methoden sind dabei hilfreich? Inwiefern müssen bestehende Methoden der Nachbardisziplinen angesichts der spezifischen Charakteristika des Zeitgenössischen Zirkus weiterentwickelt und verändert werden?
Wie lassen sich Zirkusperformances dokumentieren und archivieren? Mit welchen Mitteln können Zirkusdarbietungen beschrieben werden? Welche Notationssysteme werden dabei genutzt? Inwiefern haben schriftliche Arbeiten zum Zirkus das Potential, das kulturelle Archiv des Zirkus zu verändern?
Sind Zirkusdarbietungen lesbar?
Wie lässt sich der Zeitgenössische Zirkus in Abgrenzung vom Traditionellen und Neuen Zirkus hinsichtlich seines Verfahrens definieren? Kann die aktuelle Geschichtsschreibung des Zirkus umgeschrieben werden, sodass diese nicht länger in Rekurs auf strukturelle und administrative Veränderungen, wie beispielsweise die Abwesenheit von Tieren, die neue Generation von Artist*innen oder einen generellen Verweis auf Narrativität erfolgt, sondern in Analogie zur Kunstgeschichtsschreibung die Veränderung der Verfahren der Aufführungen fokussiert? Lässt sich Zirkusgeschichte als Verfahrensgeschichte schreiben? Inwiefern ist die Ästhetik des Risikos ein grundlegendes Prinzip des Verfahrens zeitgenössischer Zirkusstücke? Welche Rolle spielt die Ästhetik des Risikos bei der Rezeption von Stücken?
Wie erzählen zeitgenössische Zirkusstücke? Wie verhalten sich Narrativität, Performativität und Risiko zueinander? Kann Narrativität tatsächlich als divergierendes Merkmal des Traditionellen, Neuen und Zeitgenössischen Zirkus funktionieren? Ist Erzählen in Zirkusstücken überhaupt möglich?
Welche Rolle spielt der Trick in zeitgenössischen Zirkusdarbietungen? Sind einzelne Tricks austauschbar oder sogar irrelevant? Wird die Zirkustechnik im Zeitgenössischen Zirkus zugunsten des Inhalts vernachlässigt? Welche Rolle spielen Mehrdeutigkeiten? Inwiefern werden Unverständlichkeiten zum zentralen Prinzip des Zeitgenössischen Zirkus?
Was passiert, wenn Zirkus-Metaphern ‚zurück in den Zirkus kommen‘? Welche Rolle spielt Intertextualität und Intermedialität in zeitgenössischen Zirkusdarbietungen? Was passiert bei der Transformation eines Romans, eines Films o.ä. in ein Zirkusstück?
Welchen Einfluss hat die Mobilität von Artist*innen und der ständige Wechsel des Aufführungskontextes auf die Rezeption von Stücken? Welche Rolle spielen Produzent*innen und Kurator*innen in diesem Zusammenhang? Inwiefern müssen die Kategorien Traditioneller, Neuer und Zeitgenössischer Zirkus aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Aufführungskontext infrage gestellt werden? Ist die Artist*in als Autor*in tatsächlich die zentrale Instanz, die die Rezeption des Stückes kontrolliert?
Welche Relevanz hat der allgemeine kulturelle Kontext bei der Rezeption von zeitgenössischen Zirkusstücken? Inwiefern werden zirkusspezifische Diskurse genutzt, um Bedeutung zu generieren?
Welche Rolle spielen selbstreferentielle Strategien und Metadiskurse, d.h. der dezidierte Rückgriff auf den historisch-kulturellen Kontext des Zirkus? Inwiefern sind die kulturellen Konnotationen des Zirkus für zeitgenössische Zirkusstücke relevant?
Gibt es trotz der Diversität zeitgenössischer Zirkusdarbietungen generalisierbare Merkmale? Inwiefern weist das Verfahren zeitgenössischer Zirkusstücke Ähnlichkeiten zu postmodernen Verfahren auf?
Welches Potential hat die Lektüre des Zeitgenössischen Zirkus für die dramaturgische Praxis? Inwiefern kann die Dramaturg*in in ihrer Position als Vermittler*in zwischen Zirkus und Gesellschaft die Kenntnis der Strukturen und Verfahren zeitgenössischer Zirkusdarbietungen zur Aufklärung und zum Abbau von Ressentiments nutzen?
Wie kann dieses Wissen bereits im Kreationsprozess genutzt werden? Inwiefern bieten Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus eine Grundlage für die dramaturgische Praxis?
Franziska Trapp wagt in "Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus. Ein Modell zur Text-Kontext-Orientierten Aufführungsanalyse" (De Gruyter) erste Antworten auf diese Fragen. Für ihre Arbeit erhielt sie 2019 den dritten Platz als Nachwuchswissenschaftlerin des Jahres (Academics | Die Zeit) und den Nachwuchspreis der Deutschen Gesellschaft für Semiotik.
Im März 2023 erscheint die englische Übersetzung des Bandes bei Routledge.